8 Erfolgsfaktoren in der vernetzten Angebotswelt

Die Distribution von Gütern und Leistungen scheint in diesen Jahren in vielen Branchen an einen Wendepunkt zu kommen – solche Ahnungen oder Befürchtungen dringen in einigen Gesprächen durch. In einzelnen Branchen liegt der Wendepunkt schon zurück und es bilden sich bereits neue stabile Strukturen heraus. Ein Beispiel dafür ist der Musikvertrieb: Ausgelöst durch die Entkoppelung des Hörkonsums vom physischen Tonträger kam zunächst eine Periode unkontrollierter Aneignung und Verbreitung durch Musiktauschbörsen. Die Plattformen, die das ermöglichten, wurden der Piraterie bezichtigt und schlussendlich vom Arm des Gesetzes in ihre Schranken verwiesen. Darauf folgte der Verkauf von digitalen Bezugs- und Nutzungsrechten an einzelnen Stücken und Alben via Download. Das aktuell dominierende Modell ist die kommerzielle Überlassung im Streaming-Abonnement und ohne dauerhafte Übertragung. Die Vergütung erfolgt über zeitbezogene Nutzungsgebühren. Eine Zeit lang hatte die Industrie die Kontrolle vollständig verloren, dann partiell zurückgewonnen, weil sie dank bestehender Gesetze ihre Eigentumsrechte an der digitalisierten Musik durchsetzen konnte. Der mit physischen Tonträgern verbundene Handel ist auf dem Weg in die Marginalisierung.

Die in den bisherigen Kapiteln beschriebenen Entwicklungen und die seitens der Studienteilnehmer ins Auge gefassten Planungen basieren fast alle auf der Erwartung, dass die bestehenden Geschäftsmodelle zwar mit verschobenen Grenzen, aber doch weitgehend so bestehen bleiben, wie sie bisher sind. Auch wenn es erste Gegenbeispiele gibt, stationäre Geschäfte werden im Allgemeinen immer noch als selbständige, vollwertige Verkaufseinheiten angesehen, die alle traditionellen Handelsfunktionen in sich vereinen. Cross-Channel-Services und virtuell erweiterte Sortimente dienen dazu, die Leistungsfähigkeit punktuell auszubauen. Massnahmen im Bereich Flächenreduktion und Prozessautomatisierung mögen eine Zeit lang das Kostenproblem entschärfen und einige Kostenpositionen nominal reduzieren können, die Kostenstrukturen entlasten sie aber nicht. Sollten die Umsätze oder die Margen weiter sinken, wird man in einigen Jahren mit den gleichen Fragen wieder konfrontiert sein.

In den folgenden Abschnitten sollen einige relevante Erfolgsfaktoren thematisiert und die aktuellen Entwicklungen dahingehend reflektiert werden, was sie für die heutigen Player und Strukturen in den Jahren bis 2025 und darüber hinaus bedeuten könnten. Bei der Auswahl dieser Themen und für die verwendeten Begriffe wird auf die bereits erwähnte Zukunftsstudie von GDI und KPMG zurückgegriffen [3]

8.1 Ausrichtung auf individuelle Kunden und die Notwendigkeit des Zugangs zu Daten

Dass die Distribution stärker auf individuelle Kunden ausgerichtet werden muss, ist eine Folge der Entwertung der in zu grosser Menge in die Märkte gedrückten Ware. Kundenzugangsdienstleister und Onlinemarktplätze haben die Konsumenten befähigt, sich einen eigenen Überblick über das Marktangebot zu verschaffen und ihre Entscheidungen unabhängiger von der traditionellen Distribution zu fällen. Dadurch sind die Kunden ins Zentrum des Distributionssystems gerückt (Kapitel 3.4). In Kapitel 3.6 wurde ausgeführt, dass die über das reine Produkt hinausgehenden Leistungsmerkmale, die eine höhere Zahlungsbereitschaft auslösen können, nicht nur mit der Person des Käufers, sondern auch mit dessen Situation verbunden sind – z. B. ob ein Produkt als Geschenk oder für den Eigengebrauch gekauft werden soll. Schliesslich wurde in Kapitel 3.8 deutlich, dass diese Leistungsmerkmale den persönlichen Wertvorstellungen einer Person entsprechen müssen, damit sie als potenzieller Kunde in Betracht gezogen werden kann. Aufgrund der immer stärkeren Differenzierungen wird von einer Individualisierung des Konsums gesprochen, auch wenn die gekauften Leistungen Standardprodukte sind.

Individuell zugeschnittene Angebote sind nur für Personen möglich, von denen der Anbieter etwas weiss.

Die für eine Person passendsten Kommunikationsmassnahmen und die individuell besten Angebote erfordern, dass die Person und ihre Situation erkannt werden und ihre Präferenzen bekannt sind. In der fragmentierten Customer Journey ist es für einen Anbieter kaum zu erkennen, wo im Prozess sich ein Interessent befindet, wenn man die vorausgehenden Stationen nicht kennt. Ein Anbieter muss deshalb Wege suchen, die ihm das grundsätzlich ermöglichen. Er muss einerseits typische relevante Kundensituationen identifizieren und mit ihnen die Merkmale, anhand derer sie erkannt werden können. Und andererseits muss er die eigenen Werbemittel und Angebote nach solchen Situationen klassifizieren. Meist wird für diese komplexe Aufgabe auf spezialisierte Dienstleister zurückgegriffen. Die besten Voraussetzungen schafft, wer selbst in der Lage ist, die Kunden zu identifizieren, z. B. in Verbindung mit der Nutzung einer App oder mit einem Abonnement oder einem Kundenbindungsprogramm. Besonders gross ist der Handlungsbedarf in stationären Geschäften, wo Kunden in der Regel unerkannt unterwegs sind.

Es wäre wichtig Wege zu finden, wie auch im stationären Geschäft mehr Kundendaten aufgenommen werden können. Jordan Ballazini, MediaMarkt Schweiz

Für 2025 erwarte ich, dass die meisten Kunden beim Eintritt in ein Geschäft identifiziert werden können und die Händler – wie heute online – individueller auf ihn eingehen können. Marc Isler, BRACK.CH

Kleine Anbieter haben ein riesen Know-how-Problem bei der Beschaffung von Traffic im Internet. Matthias Fröhlicher, KOALA

Instagram funktioniert für uns als Akquisitionskanal sehr gut. Stephan Widmer, Beliani

Kunden die Bereitschaft abzuringen, sich offen erkennen zu geben und Daten über sie erheben und nutzen zu dürfen, ist im Handel schwer, wenn es nicht mit unmittelbaren Vorteilen für die Kunden verbunden ist. Da ist der Handel gegenüber Kundenzugangs-Dienstleistern wie Suchmaschinen und Social Media deutlich im Nachteil.

Diese Situation einfach als gegeben anzunehmen, kann mit Blick auf die Zukunft fatal sein. Der Handel braucht eigene Kundenzugangs-Kanäle oder Dienstleister, die tatsächlich in seinem Interesse handeln und ihn nicht nur für ihre eigenen Zwecke instrumentalisieren. Wenn keine eigenen datenbasierten Wege für den Zugang zu passenden Interessenten gefunden werden, entsteht mit der Weiterentwicklung automatisierter, profilgesteuerter Zugangskanäle eine immer grössere Abhängigkeit von einigen wenigen Dienstleistern. Selbst wenn ein Anbieter eigene Daten aus einer Kundenhistorie hat, könnte es passieren, dass er sie nicht mit dem Traffic im Internet abgleichen kann, ohne sie einem Dienstleister preiszugeben – was dessen Informationsvorsprung weiter erhöht. Die Situation kann mit einem Landwirt verglichen werden, der nicht samenfestes Saatgut kauft und dadurch von fremdem Saatgut abhängig bleibt. Während Saatgut-Hersteller ihrerseits aber auch auf den Zugang zu den Anbauflächen der Landwirte angewiesen sind, besteht im Handel die Gefahr, dass Kundenzugangs-Dienstleister das über den Markt erworbene Wissen in Zukunft selbst oder auf einem anderem Weg verwerten (Kapitel 8.2).

Das Programmatische, also die Verteilung der Konsumentenanfragen in die unterschiedlichen Kanäle und dann die relativ rasche Optimierung des Angebots quasi in Realtime kann eine enorme Macht erzeugen. Studienteilnehmer

Onlinemarktplätze schaffen keineswegs immer Transparenz. Broker haben Möglichkeiten, Intransparenz zu schaffen und für sich auszunutzen. Kilian Kämpfen, Scout24 Schweiz

Der Interessenskonflikt tritt in noch stärkerem Mass auf, wenn die Kundenzugangs-Dienstleister als unmittelbare Wettbewerber der individuellen Anbieter auftreten, wie es bei einigen Onlinemarktplätzen schon heute der Fall ist. Sie haben nicht nur den quantitativen Vorsprung beim Traffic, sondern insbesondere den Vorteil der vollständigen Markttransparenz über Angebot und Nachfrage. Die GDI/KPMG-Studie schätzt den aktuellen Trend für die bestehenden Anbieter als kritisch ein: «Heute geht der Trend in Richtung Konzentration: Wer mehr Daten hat, hat bessere Produkte, kann mehr Kunden gewinnen, mehr Daten sammeln, schneller lernen und zieht mehr Talente an, die noch bessere Produkte entwickeln.» [23].

Onlinemarktplätze, die die Renner-Artikel selbst einkaufen, werden die Gewinner sein. Stephan Widmer, Beliani

Wenn sich Anbieter wie Google von der reinen Vermittlerrolle weiterentwickeln zur Plattform mit Transaktionen, wird das den Markt noch einmal stark verändern. Marc Isler, BRACK.CH

Eigentlich dürfte ein Marktplatz nur ein Marktplatz sein und nicht auch selbst anbieten. Studienteilnehmer

Den meisten Studienteilnehmern sind diese Überlegungen nicht fremd. Sie sehen die Situation wegen der Konkurrenz unter den Plattformen und weil es Startups immer wieder gelingt, sich in solchen Vermittlungsrollen neu zu etablieren, als nicht allzu dramatisch an. Irgendwann würde es in Europa wahrscheinlich auch zu wettbewerbsrechtlichen Gegenmassnahmen kommen, wobei solche Vorgänge viel Zeit brauchen. Wird aber die in einem Markt erzielbare Gewinnmarge auch nur vorübergehend weitgehend von Onlinemarktplätzen und Kundenzugangs- Dienstleistern abgeschöpft, könnten die bestehenden Distributionsstrukturen darunter zusammenbrechen. Sowohl der Kundenzugang als auch die Transaktionen würden dann über wenige digitale Plattformen laufen. Die heutigen Händler würden entweder vom Markt verschwinden oder auf die Rolle des reinen Dienstleisters für Logistik und andere Services reduziert werden.

Die sich abzeichnende Entwicklung von digitalen Assistenten, die im Zusammenhang mit Conversational Commerce in fünf bis zehn Jahren eine relevante Rolle in der Vermittlung zwischen individueller Nachfrage und vernetzter Angebotswelt spielen könnten, wirft die gleichen Problemstellungen auf.

Digitale Assistenten sind ein weiterer Schritt hin zu automatisierten Abgleichen zwischen Angebot und Nachfrage. Offen ist, wessen Produkte die Bots auswählen und wie man sich als Anbieter darauf ausrichten kann.

Insbesondere beschäftigt die Frage, inwieweit digitale Assistenten zu einem konkreten Bedarf die Auswahl der Produkte oder des Anbieters selbständig treffen. Voraussetzung dafür wäre, dass die Bots über Metadaten zum Verbraucher, seinen Präferenzen und seiner aktuellen Situation verfügen, die so gut sind, dass ihre daraus abgeleiteten Entscheidungen von den Konsumenten als nützlich angesehen werden. Die nachfolgenden Zitate zeigen typische Überlegungen der Studienteilnehmer:

In Voice-Commerce sehe ich eine gewisse Gefahr darin, dass einzelne Anbieter gar keine reelle Chance mehr haben könnten, dort anzubieten. Pascal Schneebeli, Orell Füssli Thalia

Digitale Assistenten mit Voice- oder Chat-basierter Interaktion werden bis 2025 für einfache Anfragen und Buchungen sicher stark zunehmen. Michael Maeder, Switzerland Travel Centre

Die massiv verbesserten digitalen Assistenten führen zu machineto- machine-Prozessen im E-Commerce. Erich Mühlemann, TUI Schweiz

Das reine Transaktionsgeschäft könnte in Zukunft noch viel automatisierter ablaufen, z. B. wenn ein digitaler Assistent nach meinen Kriterien das beste Angebot für mich sucht. Markus Naegeli, Canon Schweiz

Wenn in einer Perspektive bis vielleicht 2030 digitale Assistenten das ÖV-Ticket bestellen, dann würden die Leistungserbringer die Kundenschnittstelle im Vertrieb verloren haben. Markus Basler, SBB

Automatisierter Ausgleich zwischen Angebot und Nachfrage, wie bei Programmatic Advertising, könnte auch bei standardisierten Produkten kommen. Kilian Kämpfen, Scout24 Schweiz

Mich beschäftigt, wie lange wir als Anbieter es noch mit Menschen zu tun haben und ab wann das Algorithmen sein werden – implementiert in digitalen Assistenten. Damit würden Anbieter definitiv die Kundenschnittstelle verlieren. Kaufentscheide für Commodities könnten völlig autonom von Siri, Alexa oder einem anderen Intermediär getroffen werden. Markus Basler, SBB

Für die heutigen Anbieter wird entscheidend sein, ob das Matching zwischen Nachfrage und Angebot nach transparenten Regeln und auf überprüfbare Weise so erfolgt, dass nach den Präferenzen des Konsumenten das optimale Angebot den Zuschlag erhält, oder ob die intransparenten Mechanismen der Plattformen den Leistungswettbewerb faktisch aushebeln und primär von der Plattform begünstigte Anbieter zum Zuge kommen.

8.2 Datenreichtum oder Datenarmut

In der Zukunftsstudie von GDI und KPMG wird die Frage, wie der Nutzen der in der vernetzten Angebotswelt anfallenden Daten verteilt wird, als entscheidend für die Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen und die Wohlstandsverteilung in der Gesellschaft angesehen. «Der Datenaggregator und -analyst hat gegenüber dem Datenproduzenten alle Vorteile» [24]. Bei den Daten der Musikindustrie reichten die bestehenden Gesetze zu Eigentums- und Nutzungsrechten aus, um das Verhalten der Musiktauschplattformen als Piraterie zu klassifizieren und eine Korrektur zu bewirken. Bei den Daten, die ihren Ursprung im Verhalten von Konsumenten und Anbietern haben und die sich Kundenzugangs- Dienstleister und Onlinemarktplätze aneignen und kommerziell exklusiv verwerten, ist das nicht der Fall. So, wie sich die Distributionssysteme in der Konsumgüterwelt aktuell entwickeln, tragen Hersteller und Handel massiv zum Datenreichtum bei, partizipieren aber ungenügend daran. Aus den Interviews ist nicht erkennbar, dass Anstrengungen unternommen werden, diese Situation öffentlich zu thematisieren und Wege zu suchen, die eine bessere Verteilung des Nutzens an diesen Daten bewirken könnten.

Die grösste Gefahr ist eine Monopolisierung des Kundenzugangs in Verbindung mit der Marktplatzfunktion. Studientelnehmer

Das Problem könnte zu einem erheblichen Teil darin bestehen, dass die Unternehmen in der Konsumgüterindustrie in solchen Fragen im Wettbewerbsdenken verharren, während unkontrollierte digitale Plattformen die Daten aus ihrer Geschäftstätigkeit zusammenziehen und weitgehende Transparenz erlangen. Die bisher einzige grössere, anbieterübergreifende Initiative zur Selbstbehauptung ist die Tolino-Allianz im Buchhandel. Ihr ist es gelungen, im deutschsprachigen Raum einen relevanten Gegenspieler zu Amazon Kindle zu etablieren. In der GDI/KPMG-Studie wird in diesem Zusammenhang der Begriff Silodenken verwendet. Datenreichtum könne nur von den Playern erworben werden, die lernen, wie sie vom ökonomischen Potenzial der wachsenden Datenmengen profitieren können. Nur wenn das gelänge, würde die globale Wettbewerbsposition der hiesigen Unternehmen gesichert und ausgebaut werden können, würden unsere Gesellschaftsstrukturen flexibel und finanzierbar bleiben können. «Ein Festhalten an den Denk- und Arbeitsweisen der industriellen Welt hingegen wird uns eine neue Form der Armut bescheren: die Datenarmut.» [25]. Was das für die bestehenden Geschäftsmodelle in der Distribution bedeutet, wird auch gesagt: «Die Kontrolle des Informationsflusses wird zum entscheidenden Wettbewerbsvorteil – wer nur den Warenfluss kontrolliert, verliert. … Dadurch werden die in den vergangenen 150 Jahren entstandenen und optimierten Geschäftsmodelle des Einzelhandels obsolet» [26].

8.3 Erfolgsfaktor lokale Nähe

Während es auf der Ebene lokal ungebundener Daten für Schweizer Anbieter eine grosse Herausforderung werden wird, an ihrem Nutzen ausreichend zu partizipieren, sollten sich die Vorteile der physischen Nähe Schweizer Anbieter zu Schweizer Verbrauchern besser nutzen lassen. Voraussetzung dafür ist, dass diese Nähe als für die Kunden erlebbarer Vorteil ausgespielt werden kann. Die GDI/KPMG-Studie erwartet für die weitere Zukunft eine grössere Unmittelbarkeit des Konsums, also einen stark reduzierten Zeitverzug zwischen Konsumwunsch und Konsumakt – bei gleichzeitig grösserer Auswahl von Konsummöglichkeiten [27]. Das kann man sich so vorstellen, dass ein Kunde als Ergebnis einer Produktsuche aus mehreren Bezugsmöglichkeiten auswählen kann: Kauf des Produkts als Neuware, als gebrauchter Artikel oder als Nutzung zur Miete, jeweils in Kombination mit verschieden schnellen Zustell- oder Abholmöglichkeiten und entsprechend unterschiedlichen Preisen – in der Reisebranche haben vergleichbare Bezugsvarianten bereits Einzug gehalten. Auch diese Vorstellung beinhaltet die Frage, wer die Datenaggregation für die Angebote vornimmt und welche davon dem Interessenten zur Auswahl präsentiert werden. Hier soll aber die logistische Bereitstellung thematisiert werden, denn sie beinhaltet physische Infrastruktur und Übergabeorte, die noch in der Kontrolle von Schweizer Anbietern sind. In der GDI/KPMG-Studie wird davon gesprochen, dass die bestehende Raumlogistik durch eine Zeitlogistik abgelöst werde: «Wer schneller dorthin liefert, wo ich gerade mein Bedürfnis empfinde – in der Konsequenz: in Echtzeit –, gewinnt» [28]. Diese Vision geht mit der Vorstellung einer weitgehend nachfragegesteuerten Distribution einher. Eine solche kann aus Effizienzgründen nicht primär auf Warenbeständen an unzähligen Orten basieren, sondern auf prognosebasierten Warenflüssen, in denen im Idealfall lediglich die letzte Meile kurzfristig nachfragegerecht ausgesteuert wird.

Die vernetzte Handelswelt wird dafür sorgen, dass der Abstand zwischen Erzeugern und Konsumenten kleiner wird. Nathan Lauber, Nespresso Suisse

Für alle Anbieter, insbesondere für den stationären Handel mit virtuellen Sortimenten, wird es dementsprechend erfolgsentscheidend sein, auch Teil eines logistischen Distributionssystems zu sein, das ihnen eine möglichst hohe Verfügbarkeit respektive Zustellmöglichkeit von Waren von irgendwo in der vernetzten Angebotswelt ermöglicht. Das erfordert eine weitere Öffnung der bisher häufig noch vertikal geschlossenen Distributionssysteme dahingehend, dass prinzipiell jeder alles von jedem beziehen könnte und die Beschränkungen nur noch durch die Steuerung der Zugriffsrechte erfolgen – entsprechend der Distributionspolitik der Beteiligten. Auch Ship-from- Store-Konzepte könnten dabei eine Bedeutung erlangen. Verbunden werden die Beteiligten durch ein Smart Logistic Grid. Abb. 31 zeigt eine entsprechende Weiterentwicklung der in Kapitel 3.4 entwickelten Darstellung für eine Distributionslandschaft für physische Konsumgüter (Abb. 9 auf Seite 10).

Auch bei diesem Bild drängt sich die Frage auf, wer die Datenaggregation für die Logistikinfrastruktur vornehmen wird, wer dafür sorgt, dass die Leistungsfähigkeit der Logistikkomponenten hiesiger Anbieter adäquat abgebildet wird und dass die Möglichkeiten der Rechtesteuerung den Anforderungen der Schweizer Anbieter entsprechen. Gerade im Wettbewerb mit internationalen Playern dürfte entscheidend sein, dass die Vorteile der räumlichen Nähe und der vorhandenen Infrastrukturen in diesem logistischen Verteilsystem optimal ausgesteuert werden können und gegenüber ausländischen Wettbewerbern einen Wettbewerbsvorteil darstellen.

Wer in der Schweiz kümmert sich darum, dass Schweizer Anbietern nicht auch die Steuerung der Distributionslogistik der Zukunft entgleitet?

Auch hier ist in den Interviews zu dieser Studie keine Initiative auszumachen, diese Herausforderungen auf einer anbieterübergreifenden Ebene anzugehen. In einigen Interviews wird darauf vertraut, dass die bestehenden Logistikdienstleister die Strukturen dafür aufbauen würden. Diese werden aber daran interessiert sein, in erster Linie ihre Ressourcen auszulasten, und dafür sind die ganz grossen ausländischen Versender interessantere Kunden als die meisten inländischen Player. Die GDI/KPMGStudie sieht hingegen ohnehin primär grosse digitale Player als diejenigen, die die Optimierung der Logistik vorantreiben. Deren «Investitionen beruhen auf der Logik des Gesamtsystems von Angebot und Nachfrage» [29].

8.4 Die eigene Zukunft selbst in die Hand nehmen

Die Mehrheit der Studienteilnehmer ist im Hier und Jetzt verhaftet und optimiert die bestehenden Geschäftskonzepte mit der Grundhaltung, dass sich die Entwicklung der letzten Jahre in den kommenden im Wesentlichen linear fortsetzt. Dabei wird den bereits erkennbaren, grundlegenden Konsequenzen der digitalisierten Wirtschaft und der Herausbildung mächtiger digitaler Plattformen wenig Rechnung getragen.

Ein Anspruch auf die Partizipation am Datenreichtum, der heute einseitig nur bei digitalen Plattformen anfällt, wird nicht erhoben. Gegen den sich abzeichnenden unlauteren Wettbewerb in Form von Konkurrenzierung durch Onlinemarktplätze und Kundenzugangs-Dienstleister, die sich ebenfalls zu Plattformen mit Transaktionen weiterentwickeln, wird nicht vorgegangen.

Um das zu tun und um Initiativen in Richtung selbst kontrollierter Infrastrukturen und Datenzugänge aufzubauen, wären anbieterübergreifende Massnahmen und das Aufbrechen von Silos erforderlich, allen voran der Silos der grossen Schweizer Detailhändler. Dass das nicht von leichter Hand geschieht, ist angesichts der eingefleischten Rivalitäten und des Balanceakts, bei gemeinsamen Aktivitäten nicht gegen das Wettbewerbsrecht zu verstossen, verständlich. In der Zeit des Zögerns wird das Feld allerdings den Playern überlassen, die die Branche in Zukunft dominieren wollen. Man könnte es auch als fahrlässig ansehen, das einfach geschehen zu lassen. In anderen Branchen, etwa der Medienbranche und der Automobilindustrie, gibt es substanzielle Initiativen zur Zusammenarbeit auch unter den grössten Wettbewerbern – und im Hinblick auf die Konkurrenz durch globale Plattformen auch mit Billigung der Wettbewerbsbehörden.

Auf die Frage, ob Schweizer Anbieter in einer Perspektive bis zum Jahr 2025 ihre Wettbewerbsfähigkeit durch Kooperationen verbessert haben werden, antwortet die Mehrheit der Studienteilnehmer nur zurückhaltend zustimmend (Abb. 32).

Der Weg läuft über Partnerschaften. Das Sich-Abgrenzen und Geheimnisse- Haben wird sich immer mehr verwässern. Studienteilnehmer

Kooperationen zur Verteidigung gegen globale Plattformen funktionieren bestenfalls, wenn einem das Messer schon am Hals steht. Aber dann ist es zu spät: Wenn ein Anbieter wie Google schon einmal dominant ist, hat man keine Chance mehr. Markus Basler, SBB

Es ist davon auszugehen, dass Kunden in Zukunft noch gezielter entsprechend ihren persönlichen Präferenzen einkaufen oder Dinge und Services einfach nutzen werden. Für Schweizer Anbieter sind Mehrwerte anzustreben, die zum Beispiel Fabriken in Asien nicht leisten können. Das kann zum einen nur erreicht werden, wenn die ganze Branche ihre Ausrichtung umdreht und anstelle der Hersteller die Kunden mit ihren individuellen Präferenzen ins Zentrum stellt. Zum anderen darf sich die Branche den Veränderungen durch die anbieter- und kundenübergreifend datengesteuerte Wirtschaft nicht versagen. Wo die Merkmale wichtiger Services von Dienstleistern den vitalen Interessen und Anforderungen Schweizer Anbieter nicht entsprechen, wären Anstrengungen angezeigt, das Heft selbst in die Hand zu nehmen.

Alternativ hält die GDI/KPMG-Studie im Kapitel «Was vom und für den Einzelhandel übrig bleibt» als eines von fünf Szenarien das des Romantic Commerce bereit. Dabei «geht es darum, eine sinnliche, gefühlsreiche, sentimentale, taktile, häufig auch nostalgische Gegenwelt zur Digitalisierung zu schaffen» [30]. Für dieses Szenario laufen in der Schweiz Vorbereitungen mit grossem Engagement: der ganz auf die Sinne ausgerichtete, im März 2019 von Coop eröffnete Fooby Store in Lausanne ist ein leuchtendes Beispiel dafür. Der Grossteil des Marktes dürfte allerdings auf anderen Kanälen stattfinden.

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