9 AMIGOS – Social Shopping?
Dass sich Menschen in der Nachbarschaft gegenseitig mit kleinen Diensten aushelfen, ist vielleicht nicht selbstverständlich, wird aber dennoch jeden Tag tausendfach praktiziert – so auch beim Einkaufen. Die Koordination ist nicht ganz einfach: Wer hat gerade Zeit, was genau soll gekauft werden, wie regelt man das mit dem Bezahlen, was ist ein passender Zustupf für den Einkaufenden? Aber es lässt sich lösen, mit einem Aushang am schwarzen Brett des Supermarkts, durch Umhören im Bekanntenkreis etc. Oft funktioniert das, oft auch nicht. AMIGOS ist eine elegantere Lösung für dieses Anliegen. Aus aktuellem Anlass wird sie in diesem Studienbericht erörtert, denn sie polarisiert zwischen Anhängern und Kritikern. Es gilt zu klären, ob Crowd-Services in der Schweiz Teil einer vielfältig vernetzten Angebotswelt sein können oder nicht [31]. Dieses Kapitel basiert – abweichend von den anderen Teilen dieses Berichts – nicht auf Interviews im Studienpanel, sondern auf Beobachtungen und Recherchen der Autoren.
Das smarte Nachbarschaftsprojekt
Im Rahmen der Erarbeitung der Migros Digital Strategie entstand die Idee, das Anliegen von Einkaufsdiensten auf moderne Weise zu unterstützen: Menschen im Quartier für nachbarschaftliche Einkaufshilfen zusammenbringen. Mit einer Internetplattform, die Besteller und Bringer zeitnah zusammenführt, die die Einkaufsliste über eine Art Onlineshop erstellt, die Spielregeln definiert, die Bezahlung der Waren abwickelt und ein Taschengeld für den Bringer regelt: 7.90 CHF für eine Einkaufstüte und je 2.00 CHF für jede weitere. Bringer heissen die Personen, die einen über die App zugestellten Einkaufswunsch ausführen – in jedem Einzelfall völlig freiwillig. Sie kaufen die gewünschten Artikel in einer Migros-Filiale ein und bringen sie persönlich zum Besteller. Dieser Service unter Nachbarn erhielt den Namen AMIGOS.
Der Migros Genossenschaftsbund MGB bewilligte ein Pilotprojekt für diese Idee, passt sie doch hervorragend zu ihren Werten. Zudem wird der sympathische Dienst mit der Marke Migros verbunden und es werden Migros-Produkte verkauft – was will man mehr? AMIGOS ist ein Experiment, das verschiedenen Innovationsfeldern der digitalisierten Gesellschaft zugeordnet werden kann, sei es Social Shopping oder Peer-to-Peer, seien es Crowd Services oder einfach alternative Formen der Lebensmitteldistribution. Im Ausland sind bereits ähnliche, kommerziell ausgerichtete Same-Day-E-Commerce-Dienste für Lebensmittel im Einsatz, etwa Instacart in Nordamerika, VIGO in Dänemark oder Getnow in Deutschland. AMIGOS soll das Potential von Peer-to-Peer-Delivery in der Schweiz auszuloten. Der MGB übernimmt die Investitionen und bezuschusst jede Lieferung mit 2.90 CHF, um den Dienst attraktiver zu machen.
Die Nachbarschaftslösung
Abseits der regulären Migros-Organisation wurde AMIGOS als Pilotprojekt aufgesetzt. Mit minimaler personeller Ausstattung und Unterstützung durch externe ITDienstleister entstand die Lösung als erstes Migros- Schnellboot-Projekt nach agilen Methoden. Mit Webshop, App, Matching-Plattform, Volumenberechnung für die Einkaufstaschen und integriertem Zahlprozess war das Projekt keineswegs trivial. Der Launch erfolgte im April 2018 in den Kantonen Bern und Zürich. Binnen weniger Wochen registrierten sich mehrere Tausend Bringer, weitaus mehr als erwartet. Die Zahl der Besteller blieb jedoch eher unter den Erwartungen. Im ganzen ersten Betriebsjahr bestand ein Überhang an dienstleistungswilligen Bringern. Der Service selbst erhielt gutes Feedback, sowohl von Bestellern als auch von Bringern. Auch darüber hinaus, insbesondere aus der Schweizer Internet- Community, gab es ein sehr positives Echo, was sich unter anderem in den Auszeichnungen als Master of Swiss Apps 2018 und als Master of Swiss Web 2019 widerspiegelte.
Eiskalter Plattform-Kapitalismus?
Gleichzeitig kam jedoch Kritik wegen der Arbeitsbedingungen auf. Die Gewerkschaftszeitung Work vergleicht AMIGOS mit dem Fahrdienstvermittler Uber und spricht von «orangem Amigo-Kapitalismus» [32]. Anstatt einen richtigen Lohn zu bezahlen, wolle die Migros aus der Hilfsbereitschaft Profit schlagen, wird eine Soziologin zitiert.
Migros hingegen sieht sich weder als Arbeitgeberin noch als Auftraggeberin der Bringer, sondern lediglich als Vermittlerin. Migros erzielt keine Vermittlungserlöse, wie das bei kommerziellen Plattformen üblich ist, trägt die Kosten der Plattform selbst und bezuschusst jede einzelne Lieferung mit rund 5 % vom durchschnittlichen Auftragswert.
AMIGOS wurde vom Sog der arbeitsrechtlichen Probleme erfasst, die in der Plattformökonomie auftreten. Die Frage ist, unter welchen Umständen die Vermittlung zwischen einem Leistungsempfänger und einer ohne Arbeitsverhältnis tätigen Person ein Beschäftigungsverhältnis begründet. Indem die Vermittlungsleistung einer Internetplattform viel effektiver ist als die eines schwarzen Bretts oder von Kleinanzeigen, können im Allgemeinen als unkritisch angesehene Nebentätigkeiten einen professionellen Charakter annehmen. Das wichtige Anliegen des Erhalts der sozialen Absicherung der Berufstätigen gerät in Konkurrenz zum ebenfalls legitimen Anliegen flexibler, niederschwelliger Tätigkeiten mit Verdienstmöglichkeit. Die hohen Anforderungen des heutigen Arbeitsmarktes und der sozialen Sicherung scheinen Menschen, die diesen Anforderungen nicht gerecht werden können oder wollen, einfachere, semiprofessionelle Erwerbsmöglichkeiten zu verwehren.
Das Geschäftsmodell
Für die Beurteilung, ob AMIGOS eher ein soziales oder ein kommerzielles Engagement ist, ist es sinnvoll, das Geschäftsmodell zu beleuchten. Dazu können die Nutzenund Lastenaspekte der beteiligten Rollen herangezogen werden:
Die Besteller können Lebensmittel bequem online bestellen und erhalten die Lieferung, wenn gewünscht, schon binnen weniger Stunden. Das ist der schnellste in der Schweiz angebotene Lieferservice. Bei AMIGOS gibt es keinen Mindestbestellwert, während die beiden führenden Schweizer Lebensmittel-Versender Bestellungen überhaupt erst ab rund 100 CHF Warenwert annehmen. Bei AMIGOS hat eine durchschnittliche Bestellung einen Warenwert von gut 60 CHF und wird in zwei Taschen angeliefert. Dafür werden 7 CHF Liefergebühr berechnet. Das ist nicht unerheblich, aber auch nicht prohibitiv. Im ersten Betriebsjahr sind weniger Bestellungen eingegangen, als AMIGOS mit seinen Bringern hätte erfüllen können. Der Service ist den Konsumenten fremd, eine Änderung der Einkaufsgewohnheiten braucht einen konkreten Anstoss. Für Besteller ist AMIGOS eine zusätzliche Option und damit ein Vorteil. Als funktionierendes Geschäftsmodell müsste AMIGOS aber auch eine ausreichend grosse Nachfrage auszulösen.
Bringer meldeten sich in den beiden Pilotregionen zu Tausenden an. Wenn man annimmt, dass für einen Einkauf für einen Besteller im gleichen Wohnquartier eine halbe Stunde Zeit aufgewendet werden muss, die dann bei einer Durchschnittsbestellung mit 9.90 CHF vergütet wird, liegt der Lohn unter dem Mindestlohn in einem Arbeitsverhältnis. Andererseits, und das ist ein wesentlicher Unterschied zu einem Arbeitsverhältnis, gehen Bringer keinerlei Verpflichtung ein, ob, wann, für welche Art Bestellungen und in welchem Umfang sie überhaupt Aufträge ausführen. Aus der grossen Nachfrage nach Bringer- Jobs ist zu schliessen, dass viele den Dienst zu diesen Konditionen als attraktiv für sich beurteilen. Übernimmt ein Bringer das ganze Jahr über jede Woche vier durchschnittliche Lieferungen, bleibt sein Jahreseinkommen unter der Geringfügigkeitsgrenze von 2’300 CHF. Auch im Fall eines Beschäftigungsverhältnisses müssten dann, wenn vom Bringer nicht explizit verlangt, keine Sozialversicherungsbeiträge abgeführt werden. In welchem Umfang die Bringer Lieferdienste übernehmen, steht bisher in ihrem eigenen Ermessen und hängt auch von der Nachfrage ab. Allerdings könnte AMIGOS den Freiheitsgrad auch einschränken und Limitierungen einführen. Für Migros kann das AMIGOS-Umsatz- und Ertragspotenzial am besten aus Vergleichen zu den alternativen Einkaufsszenarien abgeleitet werden.
Ohne den Dienst AMIGOS kaufen Besteller den allergrössten Teil ihres Bedarfs selbst oder durch persönlich organisierte Helfer in den Supermärkten ihrer Region ein. Dabei werden alle Rüst- und Transportarbeiten selbst ausgeführt. Mit AMIGOS wird die Auswahl der Supermärkte auf Migros-Filialen beschränkt. Hier sei angenommen, dass die Hälfte der AMIGOS-Umsätze für Migros zusätzlich generierte Umsätze wären. Diesen stehen die Kosten der AMIGOS-Lieferzuschüsse in Höhe von rund 5 % auf den Warenwert aller Umsätze, nicht nur der zusätzlichen, sowie die Kosten für die IT-Amortisation und den Overhead der AMIGOS-Organisation gegenüber. Der Zusatzumsatz wird also mit Kosten von über 10 % belastet. Angesichts der niedrigen Margen im Supermarktsegment kann eine AMIGOS-Bestellung in der isolierten Betrachtung im Vergleich zu einem Filialeinkauf nicht als zusätzliche Ertragsquelle für Migros eingestuft werden.
Die Alternative zum Filialeinkauf sind Onlinebestellungen bei Le Shop oder coop@home, die ein zu den Filialen vergleichbares Sortiment haben. Allerdings verlangen diese Mindestbestellwerte von rund 100 CHF. Das dürfte für viele AMIGOS-Besteller prohibitiv hoch sein, sonst würden sie ja schon seit Jahren von diesen Kanälen Gebrauch machen. Denkt man den Fall trotzdem weiter, fallen für Kunden Liefergebühren von rund 17 CHF an. Prozentual gesehen ist das mehr als bei AMIGOS. Die tatsächlichen Kosten der Versender dürften noch höher liegen und den Zuschuss von 5 % bei AMIGOS übersteigen. Die Vorteile von AMIGOS aus Migros-Sicht lägen also in einer anzunehmenden Einsparung bei den Fulfillment- Kosten und in den möglichen Zusatzumsätzen zulasten des Wettbewerbs.
Interessant würde das Modell erst, wenn sich der heutige, sehr hohe Mindestbestellwert der Lebensmittelversender nicht länger halten lässt. Das ist angesichts der Marktentwicklung in den nächsten Jahren zu erwarten. Dann könnte die Zahl der Lebensmittel-Onlinebestellungen mit vergleichsweise niedrigen Bestellwerten sprunghaft ansteigen und dann könnte AMIGOS, wenn sich das Konzept als tragfähig erweist, die schnellste und kostengünstigste Fullfillment-Lösung im Schweizer Lebensmittel-E-Commerce sein.
In der aktuellen Ausgestaltung und im Vergleich zu Filialverkäufen ist AMIGOS rein aus Ertragssicht kein interessantes Geschäftsmodell für Migros. Trotzdem entsteht für Migros zweierlei Nutzen: Zum einen daraus, dass – sofern der aktuelle Konflikt keine weiteren Wellen schlägt – der Schweizer Bevölkerung mit AMIGOS ein nützlicher Dienst erwiesen wird, der auf die Marke einzahlt. Zum anderen aus den Erkenntnissen, die dieser Service in Bezug auf Innovationsfelder der digitalen Gesellschaft und alternative Formen der Lebensmitteldistribution bringen kann. Bekanntlich experimentiert Migros parallel in verschiedenen Initiativen mit Fulfillment-Varianten. AMIGOS ist zudem auch eine Experimentierplattform im E-Commerce, das zeigt das neu eingeführte Angebot personalisierter Bestellvorschläge. Den Nutzen in Form konzeptioneller Erkenntnisse und Erfahrungen, die man in den kommenden Jahren aus AMIGOS wird ableiten können, kann man heute noch nicht beziffern. Er dürfte aber der wertvollste Teil des Experiments AMIGOS sein.
Professionalisierte Freundschaft
Angesichts der kontroversen Reaktionen entschied sich Migros, vor einem weiteren Rollout von AMIGOS die Bringer in einen eindeutigen Status zu bringen. Dazu sind proaktive oder restriktive Massnahmen vorstellbar. Bei einer sehr restriktiven Haltung könnte man sich ganz aus der Transaktion zurückziehen. Das würde heissen, dass Besteller und Bringer einander zwar zugeführt werden, sich dann aber wie bei einer Kleinanzeigenplattform untereinander selbst koordinieren müssten. Auf der Plattform könnte zwar noch eine Einkaufsliste zusammengestellt, aber nicht mehr bestellt und auch nicht bezahlt werden.
Wie die Lösung schlussendlich aussehen wird, ist noch nicht entschieden. Aktuell werden proaktive Lösungen gesucht. Angenommen, der Dienst wird so ausgestaltet, dass ungeachtet des tatsächlichen Status der Bringer alle Bedingungen erfüllt würden, die bei einem geringfügigen Arbeitsverhältnis erfüllt werden müssten, würde dies den Charakter von AMIGOS doch verändern.
Für Bringer würde sich ändern, dass sie sich authentisieren und in eine insgesamt stärker formalisierte Beziehung eintreten müssten. Das beinhaltet explizit vereinbarte Bedingungen, regelmässige Abrechnungen und dergleichen. Im Zusammenhang mit einer Angleichung an den Mindestlohn könnte die Vergütung etwas ansteigen. Der Freiheitsgrad, wann sie wie viele Bringer-Dienste übernehmen, könnte wegen der Grenzwerte eines geringfügigen Arbeitsverhältnisses eingeschränkt werden. Denkbar wäre auch, dass es einmal «Aufstiegsmöglichkeiten» in reguläre Beschäftigungsformen geben könnte. Das würde dann aber auch von den Bringern die Verbindlichkeit eines gewöhnlichen Arbeitsverhältnisses erfordern.
Ob sich für Besteller etwas ändert, hängt in erster Linie davon ab, wie attraktiv Migros den Dienst für die Konsumenten halten will und in welchem Mass sie bereit ist, die anfallenden Defizite zu tragen.
Für AMIGOS würde der Aufwand für die Bringer-Administration viel höher werden als bis anhin. Und der Dienst würde, je nach Ausgestaltung des Bringer-Status, etwas oder deutlich teurer werden. Wenn im Fall von hoher Nachfrage aus dem Experiment ein dauerhafter Service werden soll, wird irgendwann auch ein quantifizierbarer Nutzen erwartet werden. Damit würde ein kommerzieller mit definierten Leistungen und Vergütungen entstehen, der Bringer-Service wäre professionalisiert.
Im Sinne der Vielfalt wäre es wünschenswert, wenn der semiprofessionelle Crowd-Service parallel zu einer vollprofessionellen Lösung weiterbestehen könnte. Etwas Vergleichbares praktiziert die Zürcher Mila AG, die mit rund 8'000 aktiven Mila Friends und rund 1'500 aktiven Mila Pros technische Services erbringt, unter anderem für Swisscom- und BRACK.CH-Kunden.
Vielleicht ist es ein Glücksfall, dass es Migros ist und nicht Uber, die hier den passenden Weg auslotet und für vergleichbare Fälle zur Referenz werden könnte. Kein anderes Unternehmen geniesst in der Schweizer Bevölkerung so viel Vertrauen: Zum sechsten Mal in Folge führt Migros auch 2019 das Reputationsranking GfK Business Reflector an. Insbesondere die emotionale und die sozialmoralische Reputation bewirken die hohe Identifikation der Schweizer mit der Migros, heisst es im Bericht dazu [33]. Wer wäre da besser geeignet, sich am Ausloten von Lösungen für neue, strukturelle Probleme im Arbeitsmarkt und in der digitalen Ökonomie zu beteiligen.
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