5 Die Situation des traditionellen Einzelhandels
Nachdem in den vorausgegangenen Kapiteln die Distribution als Ganzes und insbesondere die Handlungsoptionen der Hersteller behandelt wurden, soll nun auf den Endpunkt der Distributionskette fokussiert werden, den Einzelhandel. Dessen wichtigster Touchpoint sind stationäre Geschäfte. Die sind wegen anhaltender Frequenzrückgänge und einer im Vergleich zur wirtschaftlichen Gesamtleistung seit vielen Jahren unterdurchschnittlichen Umsatzentwicklung in einer Krise. Und mit ihnen sind es auch die Stadtbilder mit leerstehenden Ladengeschäften sowie Shoppingcenter mit ungewisser Zukunft. Die Situation soll in verschiedenen Aspekten erörtert werden.
5.1 Die Sortimentsfunktion und der Trend zu virtuellen Sortimenten
Das in vielen Branchen wichtigste Unterscheidungsmerkmal des Handels im Vergleich zu direktvertreibenden Herstellern ist die Sortimentsfunktion. Ihr Potenzial besteht darin, den Kundenbedürfnissen über ein vielfältiges Sortiment mit Produkten mehrerer Marken und Hersteller besser gerecht zu werden. Noch bis vor 20 Jahren beinhaltete die Sortimentsfunktion den beinahe exklusiv erbrachten Service, Konsumenten einen Überblick über das Marktangebot geben zu können. Dieses Alleinstellungsmerkmal ging mit der Transparenz, die das Internet schafft, verloren. Technologieunternehmen von ausserhalb der jeweiligen Branchen schufen Onlinemarktplätze, Suchmaschinen und Preisvergleichsplattformen, die sich in vielen Situationen zwischen Handel und Konsumenten positionieren und heute einen wesentlichen Teil der Wertschöpfung zu sich umlenken. Die Pendants des Internets sind allerdings keine Sortimente im eigentlichen Wortsinn. Ihnen fehlt das Element einer Sortierung, die über eine Gliederung nach Warengruppen hinausgeht. Die gebotene Auswahl ist praktisch immer grösser als bei einem traditionellen Händler. Das kann ein Vorteil, aber auch ein Nachteil sein. Gerade bei Produkten, bei denen es um Mode, Lifestyle und andere unscharfe Kriterien geht, gilt die Kuratierung eines Sortiments für eine bestimmte Zielgruppe noch immer als differenzierende Kompetenz des Einzelhandels.
Im Zentrum der Identität des Handels steht die Sortimentsfunktion, das Auswählen und Kuratieren von Produkten. Marcel Schaniel, Möbel Pfister
Unser kleines, aber gut kuratiertes Home-Sortiment kommt sehr gut an. Laurent Garet, La Redoute Suisse
Eine kuratierte Produktauswahl ist einer der grossen USPs des stationären Handels. Marc Huber, Jelmoli
Auch einige reine Onlineanbieter arbeiten an gepflegten Sortimenten und unterhalten ein fachkundiges Category Management, z. B. geschenkidee.ch oder BRACK.CH. Da sie trotzdem über sehr grosse Sortimente verfügen, drückt sich die Kuratierung vor allem in Filtermöglichkeiten oder Kategorisierungen aus, z. B. ob ein Geschenk für Kinder eines bestimmten Alters geeignet ist. Bei weicheren Kriterien, z. B. ob ein Outfit für einen bestimmten Anlass passt, entfaltet das kuratierte Sortiment sein Potenzial in Verbindung mit einer kompetenten Beratung. Anbieter wie Franz Carl Weber oder PKZ haben die Beratungskompetenz immer hochgehalten, viele andere haben sie lange Zeit vernachlässigt und damit Kundenzutrauen verspielt. Allerdings läuft die Beratungskompetenz bei Commodities, Gewohnheitskäufen oder wenn die Produktentscheidung schon vorgängig an anderer Stelle gefallen ist, ins Leere.
Bei Jelmoli rücken wir die echten Bedürfnisse der Kunden in den Vordergrund. Den simplen Bedarf decken Produktanbieter wie Amazon. Marc Huber, Jelmoli
Die ganze Informations- und Vergleichsphase findet für die meisten Leute im Netz statt. Ich gehe nicht in einen Laden, weil der Verkäufer so ein kompetenter Typ ist. Kilian Kämpfen, Scout24 Schweiz
Kunden wissen, warum sie in ein bestimmtes Geschäft gehen. Für Anbieter, bei denen der Grund nicht ganz klar ist, wird es schwierig. Studienteilnehmer
Kuratierte Sortimente und Beratung, die beiden Eckpfeiler des Fachhandels, entfalten ihren Wert nur in den Kaufsituationen, in denen der Kunde sie auch wünscht.
Der stationäre Handel ist hier in einem Dilemma: Hat er kein klares Profil, kommen die Kunden nicht in sein Geschäft, hat er ein Profil, beschränkt er sich auf ein kleineres Marktpotenzial. Umso wichtiger ist es für die Geschäfte, dass für Kunden, die in das Geschäft kommen, ein passendes Angebot verfügbar ist. Um das zu erreichen, gibt es aktuell im Schweizer Einzelhandel eine breite Bewegung hin zu virtuellen Sortimentserweiterungen. Damit ist gemeint, dass im Laden Artikel gekauft werden können, die sich nicht im Laden befinden. Stattdessen werden sie bei Bedarf aus einem anderen Lager des Unternehmens oder eines Lieferanten abgerufen.
Auch im stationären Handel will man sich nicht mehr einfach damit abfinden, dass Kunden in den Laden kommen und ohne etwas zu kaufen wieder gehen. Es werden Massnahmen getroffen, um die Kaufabschlussrate gezielt zu erhöhen. Diese werden in Kapitel 5.3 vertieft.
Ein Paradigma aus dem E-Commerce springt auf den stationären Handel über: die Conversion Optimierung.
Die Frequenz in gewissen Läden ist nach wie vor leicht rückläufig. Deshalb messen und optimieren wir die effektive Conversion Rate in den Geschäften. Pascal Schneebeli, Orell Füssli Thalia
Wir wollen die Conversion in den Aeschbach-Filialen erhöhen, indem wir für jeden Kunden ein passendes Angebot haben - mit Hilfe des online erweiterten Sortiments. Matthias Fröhlicher, KOALA
Grosse Bedeutung haben virtuelle Sortimente auch in Onlineshops von Cross-Channel-Anbietern. Von den räumlichen Beschränkungen befreit, können die stationären Sortimente online in grösserer Breite und in mehr Varianten angeboten werden. Dabei muss jeder Anbieter für sich entscheiden, wie weit er die Kuratierung im erweiterten Sortiment aufrechterhält, damit das Anbieterprofil online nicht verloren geht. Es ist nämlich zu erwarten, dass die reinen Onlineanbieter auch in dieser Disziplin aufholen. Mit der Ausgangsbasis viel grösserer Sortimente arbeiten sie intensiv daran, die Defizite der Kuratierung mit den Mitteln der Datenanalyse zu kompensieren.
Was die Kuratierung des Sortiments im traditionellen Handel ist, ist die Personalisierung im E-Commerce.
Erfolgreiche Personalisierung ist nur möglich, wenn man Zugriff auf sehr viele Datensätze zum Benutzerverhalten in der jeweiligen Sortimentsgruppe hat. Diese Voraussetzung erfüllen traditionelle Händler in der Regel nicht, grosse Onlineanbieter hingegen schon. Zwar werden gute Berater maschinellen Vorschlägen gerade bei besonderen Anforderungen noch länger überlegen sein. Aber in vielen Standardsituationen wird die Qualität IT-basierter Empfehlungen ausreichen. Damit verkleinert sich die Anzahl der Kaufsituationen, in denen die Assets des traditionellen Handels einen Mehrwert entfalten, weiter.
5.2 Flächenreduktion, sofortige Verfügbarkeit und Streckengeschäfte
Leerstehende Ladengeschäfte werden uns wohl noch länger beschäftigen. Gut 80 % der Studienteilnehmer erwarten für ihre Branche bis 2025 einen weiteren grösseren Rückgang bei der Anzahl Geschäfte. Noch grösser ist die Zustimmung zum Trend der Flächenreduktion bestehender Geschäfte, den fast 90 % der Befragten bestätigen.
Die Entwicklung hin zu weniger Verkaufsfläche ist schlicht notwendig. Studienteilnehmer
Kleine Geschäfte und online erweiterte Sortimente, das ist ein möglicher Weg. Selbst in einem grossen Geschäft hat man oft nicht genau das, was der Kunde wünscht. Patrick Bundeli, INTERSPORT Schweiz
In Zukunft wird es kleinere und weniger Geschäfte geben. Marcel Dobler, Franz Carl Weber
In der Schweiz gibt es zu viel Verkaufsfläche, auch bei Produkten des täglichen Bedarfs. Studienteilnehmer
Aktuell läuft eine Welle von Filialoptimierungen – nach Standort, Grösse, Miete und Bewirtschaftungskosten.
Filialen werden aber nicht einfach geschlossen, denn wo eine Filiale schliesst, geht unweigerlich Umsatz verloren. Lieber versucht man, das Filialportfolio zu optimieren. Freiwerdende Flächen bieten dafür Gelegenheiten, nicht zuletzt über 130 ehemalige OVS-Filialen (davor Charles Vögele) und über 40 aufgegebene Ex Libris-Filialen.
Den Umbrüchen im Einzelhandel begegnen wir mit einer Optimierung der Filialstandorte und der Filialen selbst. Pascal Schneebeli, Orell Füssli Thalia
PKZ hat sein Filialportfolio so optimiert und ausgerichtet, dass alle 39 Standorte eine Zukunftsperspektive haben. Reto Senti, PKZ Burger-Kehl
Aus den Aussagen der filialisierten Handelsunternehmen im Studienpanel ist abzuleiten, dass etwa die Hälfte von ihnen im Jahr 2025 weniger Filialen haben wird als heute. Von denen, die mit einer etwa gleich grossen Anzahl planen, sagt die Hälfte, dass das nicht unbedingt dieselben sein werden wie heute. Es werden auch ganze Formate neu erfunden, wie Coops Transformation von Toptip in Livique zeigt. Solange der stationäre Handel noch gut im Rennen ist, wird alles getan, um ihn im Rennen zu halten, trotz schlechter Vorzeichen für das Kommende.
Filialoptimierungen sind keine Antwort auf die eigentliche Frage: Welche Rolle spielen Filialen in einer vernetzten Angebotswelt, und wie werden sie finanziert?
Die aktuellen Massnahmen fokussieren auf Kostensenkungen bei gleichzeitiger Leistungssteigerung oder mindestens Leistungserhalt. Das ist bei reduzierter Fläche eine Herausforderung. Schliesslich gilt die sofortige Verfügbarkeit der Ware als ein entscheidender Erfolgsfaktor des stationären Handels (Abb. 14). Der Flächenabbau wird unweigerlich mit einer Reduktion des im Laden sofort verfügbaren Sortiments einhergehen – zumal die Geschäfte auch mehr Fläche für Erlebnisse und Dienstleistungen schaffen wollen.
Dass Läden Abhollager für das ganze Sortiment sind, verliert an Bedeutung. Dominic Blaesi, Flaschenpost Services
Um dem zu begegnen, sollen nicht nur virtuelle Sortimente einbezogen werde (vgl. Kapitel 5.1), sondern die Filialsortimente selbst sollen datengestützt optimiert werden, idealerweise pro Standort. Samy Liechti von BLACKSOCKS spricht insgesamt von der Notwendigkeit einer intensiveren Filialbewirtschaftung:
Wenn man die Flächen verkleinert, muss man sie besser bewirtschaften. Man muss das ausgestellte Sortiment alle drei oder vier Wochen wechseln, sonst gibt es keinen Grund mehr, in den Laden zu gehen. Samy Liechti, BLACKSOCKS
Das Category Management ist gefordert, trotz des Ziels ansprechender Warenbilder Artikel mit zu geringem Umschlag konsequenter zu hinterfragen. Zudem wird das durchgängige Selbstbedienungsprinzip in Frage gestellt: Ein Teil der verfügbaren Produkte, z. B. Farbvarianten, könnte zukünftig nur noch bedient zugänglich sein.
Wenn das Sortiment in einer Filiale reduziert werden muss, ist es entscheidend, die Reduktion datengestützt vorzunehmen. Pascal Schneebeli, Orell Füssli Thalia
Das Long-Tail-Sortiment in den Läden wird zunehmend über Bestellprozesse abgewickelt. Pierre Wenger, Interdiscount
Inwieweit Kunden akzeptieren werden, nicht mehr alle Artikel im Laden vorzufinden, ist bislang allerdings ungewiss. Oder werden sich die Kunden schnell daran gewöhnen, im Geschäft nicht alle Artikel gleich mitnehmen zu können, wie es Marc Isler von BRACK.CH erwartet?
Kunden werden sogar den Anspruch stellen, dass das Angebot vielfältiger ist als die ausgestellten Produkte. Marc Isler, BRACK.CH
In ein Warenhaus geht man ja gerade mit der Erwartung, dort alles zu finden. Laurent Garet, La Redoute Suisse
Eine zu geringe Auswahl könnte den Shift zu Online genauso beschleunigen wie der Wegfall von stationären Einkaufsmöglichkeiten.
Als wichtigster Faktor dafür, dass die virtuelle Sortimentserweiterung von Kunden akzeptiert wird, gelten die Lieferzeit und die Zustelloptionen (Abb. 14). «Wenn das nicht sehr gut funktioniert, werden die Kunden ja geradezu aufgefordert, beim nächsten Mal gleich selbst online zu bestellen, wo man es am nächsten Tag erhält, vielleicht sogar günstiger und gratis geliefert», meint ein Studienteilnehmer. Den Best-in-Class-Onlineanbieter als Benchmark heranzuziehen, dürfte die Leistungsfähigkeit eines stationären Anbieters allerdings überfordern. Das gilt erst recht, wenn die Ware aus anderen Filialen abgezogen werden muss. Alternativ zum eigenen Fulfillment kann er die Ware nach dem Konzept des Streckengeschäfts – auch Dropshipping genannt – in seinem Namen von einem dafür eingerichteten Grosshändler an den Kunden versenden lassen.
Ist eine solche Zusammenarbeit vereinbart und mit geeigneten Prozessen und IT-Schnittstellen eingerichtet, kann eine die Bestellung ohne Zeitverzug ausgeführt werden. Die Bereitschaft und Fähigkeit von Grosshändlern, im Namen ihrer Handelskunden Streckengeschäfte auszuführen, ist in den letzten Jahren massiv gestiegen. Jamei, der zur Competec-Gruppe gehörende Grosshändler für Home & Living, gibt seinen Handelskunden Echtzeitzugriff auf seine Lagerbestände von über 10’000 Artikeln. Er nimmt Bestellungen mit Stückzahl Eins an und versendet die bis 17 Uhr eingegangenen Bestellungen so, dass sie am nächsten Tag beim Endkunden ankommen.
Bei virtuellen Sortimenten in Verbindung mit Streckengeschäften reduziert sich die Wertschöpfung des Händlers auf das Wesentliche: den Zugang zum Kunden.
Ein Artikel aus einem virtuellen Sortiment ist meist für viele Anbieter gleichermassen verfügbar. Der Artikel selbst bietet damit kein Differenzierungspotenzial. Auch bei der Preissetzung dürfte wenig Spielraum bestehen. Nach Abzug der Kosten für das externe Fulfillment und den Versand könnte nur noch eine kleine Marge übrigbleiben. Wenn sich der Händler bezüglich all dessen im Klaren ist, kann dieses Modell eine gute Option sein: Er kann einen Kunden zufriedenstellen, was in der Zukunft zu erneuten Käufen führen könnte. Zudem gewinnt er bei einem Versand die Kundendaten und damit in der Regel auch ein Opt-in für spätere Kommunikation.
Bei Elektronik, Mode, Büchern und anderen Artikeln werden Streckengeschäfte seit Jahren praktiziert, und auch Galaxus als grösster Schweizer B2C-Onlinemarktplatz arbeitet für einen grossen Teil seines Angebots mit diesem Verfahren.
Im Supermarktsegment kann man sich das dagegen noch nicht vorstellen. Dabei gibt es auch dort zu viel Verkaufsfläche. Meist entscheiden sich die Kunden einfach für einen anderen Artikel oder gehen in ein anderes Geschäft. Für eine spezielle, in einer verkleinerten Filiale nicht mehr erhältliche Fondue-Käsemischung wird eine Bestellung und Nachlieferung eher als abwegig angesehen. Kunden würden das kaum verlangen und wenn sie es täten, gäbe es in den heutigen Strukturen von Mindestbestellwerten und Liefergebühren keine geeignete Lösung.
Einen Teil der Nachfrage wird man wohl nicht mehr sinnvoll bedienen können.
Aber vielleicht gibt es doch einmal eine Lösung, wenn die Strukturen offen bleiben für neue Lösungen. Eine solche ist AMIGOS, das Migros-Experiment mit dem Crowd-Einkaufsservice, das in Kapitel 9 detailliert erörtert wird. Dass lokale Nähe und sofortige Verfügbarkeit auch in Zeiten von E-Commerce immer noch wertvolle Assets sind, und zwar auch für junge Menschen, zeigt eine Entwicklung im Foto-Finishing. Als sich die Branche schon zu fast 100 % digital wähnte, entstand ein kleiner Boom von Foto-Sofortdruckstationen, der sich seit Jahren erfolgreich hält. Für Sven Betzold von ifolor zeigt sich darin der Trend zur sofortigen Erfüllung von Wünschen – Instant Gratification.
Dass Foto-Sofortdruck-Stationen im stationären Handel so gut laufen, ist der Generation Z zuzuschreiben, die ihre Bedürfnisse sofort befriedigt haben möchte. Sven Betzold, ifolor
5.3 Digitale Aufrüstung von Ladengeschäften und Beratungskompetenz des Personals
Ein Aspekt virtueller Sortimente wurde bisher gänzlich ausgeklammert, nämlich die Frage, wie die nur virtuell verfügbaren Artikel an die Kunden herangetragen werden sollen. Dazu braucht es im Geschäft irgendeine Art von Interaktion – und die ist nicht mehr selbstverständlich. Nach Jahrzehnten der Ausrichtung der Geschäfte auf Selbstbedienung und der Vernachlässigung der Beratungskompetenz des Personals ist es keineswegs ungewöhnlich, wenn ein Kunde ein Geschäft betritt und nach einiger Zeit ohne jegliche Interaktion wieder verlässt.
Interaktion in Geschäften muss neu erfunden und gelernt werden, vom Personal und von den Kunden.
Einige Studienteilnehmer haben bereits Versuche mit digitalen Terminals, interaktiven Screens oder Tablets für Kunden gemacht, allerdings immer für den Gebrauch in Selbstbedienung – und weitgehend ohne Erfolg. Solange interaktive Screens nicht sehr nah bei den Produkten platziert sind, zu denen sie mit zwei oder drei Klicks die relevante Zusatzinformation geben, und solange sie von der Usability her nicht total einfach sind, solange werden Konsumenten sie kaum annehmen, zumindest nicht im Selbstbedienungsmodus.
Einfach einen Onlineshop im Laden projizieren, macht keinen Sinn. Daniel Röthlin, Ex Libris
Die Leute fahren nicht in ein Shoppingcenter, um online zu bestellen. Laurent Garet, La Redoute Suisse
Im Laden gehen die Kunden zu den Verkäufern, nicht an einen Bildschirm. Pierre Wenger, Interdiscount
An ein Tablet irgendwo in einer Abteilung glaube ich nicht. Produkt und Interaktion müssen nah beieinander sein. Marc Isler, BRACK.CH
Folglich wird das Verkaufspersonal zum Schlüssel für die Erschliessung virtueller Sortimente. Die Herausforderung, das umzusetzen, ist einmal mehr hoch. Sie betrifft sowohl das Personal selbst als auch das Equipment. Als solches werden Tablets oder interaktive Screens gebraucht. Die Hardware ist noch das Wenigste. Erste Erfahrungen zeigen, dass der Ansatz, das Personal einfach auf der vorhandenen Website navigieren zu lassen, im Verkaufsgespräch zu umständlich ist.
Damit das Verkaufspersonal Tablets sinnvoll nutzen kann, muss man spezielle Tools entwickeln. Lenkt das Navigieren ab, verliert man den Kunden schnell. Matthias Fröhlicher, KOALA
Will man es gut machen, müssen Use Cases zum Verkaufsgespräch designt werden. Die Bedienung muss so einfach und schnell sein, dass sie den persönlichen Dialog mit dem Kunden nicht unterbricht. Zudem werden natürlich dafür passende Bilder und Daten benötigt.
Auf der Seite des Verkaufspersonals ist eine Rückbesinnung auf die Bedienung eines Kunden in der Kaufvorbereitung erforderlich, nicht nur auf Kassieren, Umtauschen und andere strukturierte Aufgaben. In vielen Geschäften ist diese Kompetenz Mangelware. Die Möglichkeiten der Dialogeröffnung sind ebenso zu üben wie die für Kunden ungewohnte Bitte um Identifikation, um die Beratung mit allfälligen Informationen aus dem CRM-System verbessern zu können. Anschliessend braucht es ein Wechselspiel zwischen Beratung an vorhandenen Produkten und Informationen auf dem Tablet. Allerlei Daten zu Varianten, Beständen, Lieferzeiten und Preisen werden benötigt. Der Prozess endet vielleicht mit einem Kauf – kann die Bezahlung gleich mobil vor Ort erfolgen? Der Abschluss könnte auch die Bestellung eines Artikels aus dem virtuellen Sortiment sein, oder der Eintrag eines Artikels auf der Merkliste im Account des Kunden oder zumindest irgendein nächstes Angebot oder ein Kontakt, den man mit dem Kunden vereinbart. Das ist alte Schule mit moderner Technik und offensichtlich ein teurer Prozess, aber zu Ende gedacht z. B. für ein gehobenes Warenhaus.
Die persönliche Kompetenz der Verkäufer bleibt wichtig. Zusätzlich benötigen sie Skills im Umgang mit technischen Hilfsmitteln und die Fähigkeit, diese geschickt ins Verkaufsgespräch einzubeziehen. Reto Senti, PKZ Burger-Kehl
Orell Füssli realisiert gerade in einem Projekt namens Guisela – Guided Selling App – eine Lösung für die Beratungsunterstützung des Verkaufspersonals. Auf dem Tablet sollen viel mehr Informationen zur Kundenberatung bereitgestellt werden, als es mit einem klassischen Warenwirtschaftssystem möglich ist. Die Herausforderungen bleiben der Einstieg in die Interaktion, die gezielte Unterstützung des jeweiligen Schrittes und die Überleitung in den nächsten.
Wir machen sehr gute Erfahrungen mit Tablets für Wohnberater. Marcel Schaniel, Möbel Pfister
Grosse Touchscreens unterstützen die Beratung im Reisebüro optimal. Erich Mühlemann, TUI Schweiz
Christopher Tscholl von FREITAG führt noch genereller aus, wie sich die Anforderungen an die Mitarbeitenden mit den digitalen Tools und den von Kunden erwarteten Serviceleistungen verändern: Demnach werden Verkäufer in Zukunft nicht nur in der Begegnung im Laden, sondern auch vernetzt mit Kunden interagieren. Sie werden sich mit Rezensionen im Web auseinandersetzen, in Social Media gestellte Fragen beantworten, mit dem Tablet das verfügbare Sortiment überprüfen, etwas bestellen, für einen Kunden eine Produktregistrierung online durchführen oder auch Reparaturen anmelden.
Konzepte, in denen sich interaktive Screens nahtlos in den Selbstbedienungsprozess der Kunden einfügen, sind noch Mangelware.
Weiterhin gesucht werden weniger personalintensive Lösungen, die Kunden gerne annehmen und selbständig nutzen. Dazu gehören interaktive Screens als Verkaufshelfer in Umgebungen mit vielen Menschen, ähnlich Bestellterminals, wie man sie bei McDonald’s sehen kann.
Auch der Einbezug der Smartphones der Kunden ist ein Thema. Die Initialisierung ist aber oft eine hohe Hürde. Bei Coop helfen Mitarbeitende den Kunden, die Passabene- App auf ihrem Smartphone einzurichten.
Wir ermutigen die Kunden, ihr Smartphone im Laden zu nutzen. Philippe Huwyler, coop@home
Zur digitalen Aufrüstung von Ladengeschäften wurden noch Themen wie kassenlose Geschäfte, Augmented Reality und Electronic Shelf Labeling gestreift, für die die Studienteilnehmer bis 2025 eine relevante Verbreitung erwarten. Für Beacons dagegen konnte sich im Studienpanel niemand richtig erwärmen. Die zur Sprache gekommenen Versuche wurden alle wieder eingestellt.
Electronic Shelf Labeling hat viel Potenzial im stationären Handel, auch für Zusatzinformationen zu den Produkten. Jordan Ballazini, MediaMarkt Schweiz
Zu viele Illusionen, was mit der digitalen Aufrüstung stationärer Geschäfte erreicht werden kann, machen sich die Studienteilnehmer nicht (Abb. 15). Die Instrumente können Offline und Online zusammenbringen und helfen, den Ladenbesuch nützlicher zu machen. Das kann die Conversion der Läden verbessern. Die Voraussetzung aber bleibt, dass die Kunden überhaupt in das Geschäft kommen.
Der Laden steht am Ende der Customer Journey. Wenn sich der Kunde vorher schlau macht, kommt die digitale Aufrüstung des Ladengeschäfts zu spät. Samy Liechti, BLACKSOCKS
5.4 Kanalübergreifende Handelskonzepte
Neben der digitalen Aufrüstung von Geschäften sind es vor allem so genannte Omnichannel-, Cross-Channeloder No-Line-Konzepte, mit denen der traditionelle Handel Offline und Online zusammenbringen will. Das Thema wird in dieser Studienreihe seit Jahren ausführlich behandelt. Im vergangenen Jahr wurde der Unterschied zwischen kanalübergreifenden Geschäftskonzepten ursprünglich rein stationärer Anbieter und ursprünglich reiner Onlineanbieter verglichen [18]. Der Unterschied ist sehr gross: Onlineanbieter versuchen erst gar nicht, ihr Angebot als Ganzes auf die Fläche zu übertragen, sondern fokussieren stattdessen auf einzelne Funktionen, die als Ergänzung zu den Onlineservices den grössten Wert entfalten. Traditionelle Händler dagegen streben mit Begriffen wie Omnichannel oder No-Line häufig eine weitgehende Replik ihrer Angebote und Services im Internet an. Die traditionellen Anbieter haben sich damit eine sehr viel anspruchsvollere Aufgabe gestellt, die mit umfassenden internen Veränderungsprozessen und in der Regel hohen Investitionen einhergeht.
Trotzdem, Omnichannel oder No-Line werden die Konzepte genannt, die die filialisierten Anbieter im Studienpanel verfolgen. Daniel Röthlin von Ex Libris erläutert, was man damit erreichen kann: «Mit einem Omnichannel- Konzept kann man bei einigen Kunden für eine bestimmte Produktgattung der Anbieter der ersten Wahl werden. Das funktioniert über die multiple Präsenz und Vertrautheit mit der Marke, die für die Kunden über die verschiedenen Touchpoints jederzeit mit einem einheitlichen Kundenerlebnis verfügbar ist.» Aber bekanntlich ist es nicht einmal Ex Libris gelungen, mit seinem 1998 gestarteten Onlineshop, seinen Apps und seinen exzellenten Cross-Channel-Services die Umsatzrückgänge in den Filialen zu kompensieren. Was erreicht wurde ist, dass Ex Libris online so stark wurde, dass sich das Unternehmen 2018 vom stationären Händler mit rund 60 Filialen und Onlineshop zum Onlinehändler mit noch 14 stationären Touchpoints transformieren konnte.
Omnichannel ist eine Kundenbindungsmassnahme.
Andere Studienteilnehmer bestätigen, dass sie über die Präsenz an mehreren Touchpoints verschiedenen Kaufsituationen der Kunden gerecht werden können. Die Aussagen deuten aber darauf hin, dass es primär die mit dem Händler bereits vertrauten Kunden sind, die dessen Onlineangebot nutzen. Damit liesse sich immerhin ein Teil der rückläufigen Nutzung der eigenen Geschäfte durch eine vermehrte Nutzung der eigenen Website und des Onlineshops kompensieren – unabhängig davon, wo der erzielte Umsatz schliesslich zugerechnet wird.
Wenn man digital nicht präsent ist, verliert man auch stationär an Bedeutung. Pierre Wenger, Interdiscount
In Verbindung mit digitalen Kanälen kann der filialisierte Handel überleben. Digitale Kanäle sind einfach das grosse Schaufenster und man muss Kunden über alle Kanäle erreichen können. Reto Senti, PKZ Burger-Kehl
Es ist heute Standard, dass man online bestellte Ware in einer Filiale abholen kann. Marcel Dobler, Franz Carl Weber
Wer zu Omnichannel nicht in der Lage sei, werde – ausserhalb der Niedrigpreissegmente – mit dem Shift-to-Online mehr Umsatz verlieren als ein Omnichannel-Anbieter, so die vorherrschende Meinung. Von Umsatzsteigerungen durch sein kanalübergreifendes Handelskonzept berichtet keiner der im Studienpanel vertretenen Händler mit physischen Produkten.
Jelmoli allerdings will sich in seiner Transformation zum Omnichannel-Anbieter nicht mit einer Kompensation zufrieden geben, sondern über Online wachsen:
Mit unserem neuen Onlineshop und den zahlreichen Omnichannel- Services werden wir die stationären Umsatzrückgänge weit mehr als nur kompensieren können. Marc Huber, Jelmoli
Ob das gelingen kann? Immerhin ist Jelmoli in der Schweiz einzigartig positioniert. International als Warenhaus in der ersten Liga spielend, hat Jelmoli ein zahlungskräftiges Publikum. Ein Teil davon kommt über den Flughafen Zürich in die Schweiz und sucht die Bahnhofstrasse für Business oder Banking, Shopping und Personal Care auf – 2018 zog eine Schönheitsklinik in den grössten Luxustempel der Schweiz ein. Jelmolis geplante Locations am Zürcher Flughafen stehen für eine gezielte Positionierung an den Orten, an denen das Zielpublikum anzutreffen ist. Branding über unverwechselbare stationäre Service- und Einkaufserlebnisse sowie ortsunabhängig jederzeitige Erreichbarkeit über den Onlineshop – das ist in jedem Fall ein klares Verständnis davon, was jeder Kanal zu leisten hat.
Bei aller Überzeugung von der Notwendigkeit kanalübergreifender Präsenz verbleibt in einigen Fällen der Zweifel über die Verhältnismässigkeit des damit verbundenen Aufwands. Zudem verläuft die Transformation gerade in den sehr grossen Unternehmen schleppend und die Zwischenergebnisse sind nicht immer ermutigend. Das mag auch an zu hohen Erwartungen liegen.
No-Line kann eine Überforderung sein. Vor allem ist der Anspruch unpräzise. Eine Fokussierung auf die wichtigsten Funktionen für jeden Kanal könnte besser sein.
Mit Cross-Channel-Services wollen wir die Kundenbindung erhöhen – ob das die Investitionen wirklich rechtfertigt, sind wir am prüfen. Marcel Dobler, Franz Carl Weber
Die besten Zukunftsaussichten haben intelligente Dual-Vertriebsmodelle Online/Offline. Michael Maeder, Switzerland Travel Centre
Zwei Beispiele für sehr fokussierte kanalübergreifende Geschäftskonzepte liefert Valora. Gezwungen durch die stark rückläufige Nachfrage nach Zeitungen und Tabakwaren richtet sich Valora zunehmend auf Angebote für die mobile Sofortverpflegung mit frisch zubereiteten Produkten sowie auf Kaffee und Convenience-Artikel aus. So ist die im April 2019 im Zürcher Hauptbahnhof vorgestellte avec box eine Cross-Channel-Lösung. Die Artikelerfassung und die Transaktion erfolgen in der avec- App – Seamless Payment inklusive. Die physische avec box erfüllt lediglich die Funktion, den Kunden die Produkte zum Abscannen mit dem Handy und zur sofortigen Mitnahme bereitzustellen. Ein Anstehen an der Kasse und ein expliziter Bezahlvorgang entfallen.
Nicht anstehen zu müssen ist ein Mehrwert, den Caffè Spettacolo und die avec box durch das Einkaufen über die App bieten können. Felicitas Suter, Valora Schweiz
Das gilt auch für die schon Ende 2015 lancierte Spettacolo- App. Ihren Nutzen versteht jeder, der schon einmal am Bahnhof schnell einen Kaffee beziehen wollte und dann Angst haben musste, den Zug zu verpassen: Wartezeit, Zubereitung des Kaffees, Gipfeli dazu und Bezahlen – all das dauert, vor allem in Stosszeiten. In der App können alle Produkte auf einen minutengenauen Bereitstellungstermin vorab bestellt und bezahlt werden. Im Cafè Spettacolo im Bahnhof müssen sie nur noch abgeholt werden – das verkürzt den physischen Bezugsprozess erheblich. avec box und die Spettacolo App sind kanalübergreifende Geschäftskonzepte eines stationären Händlers, die in ganz bestimmten Situationen präzise funktionieren – von Omnichannel oder No-Line ist dort keine Rede.
Bei den meisten Unternehmen beschränken sich die Omnichannel- Aktivitäten auf die eigenen Kanäle. Das Potenzial, das sich aus der Anknüpfung an externe Onlinekanäle ergibt, wird noch kaum erschlossen. Das gilt insbesondere für die Anknüpfung an die Online-Suchprozesse der Konsumenten (Abb. 16).
Die Transparenz durch das Internet gilt manchem traditionellen Händler als Fluch. Dessen Segen nutzt er nur halbherzig.
Es ist weiterhin so, dass ein Kaufinteressent gar nicht oder nur mit viel Mühe herausfinden kann, ob ein gesuchter Artikel lokal in seiner Nähe gerade verfügbar ist – was in vielen Fällen der Fall sein dürfte. Die Onlinesuche führt ihn in der Regel zu Onlineanbietern oder bestenfalls zu stationären Anbietern ohne Hinweis auf die aktuelle Verfügbarkeit.
Wenn ein Kunde ein bestimmtes Produkt sucht, muss er erkennen können, wer in seiner Stadt dieses Produkt verfügbar hat. Samy Liechti, BLACKSOCKS
Mit Local Inventory Ads werden stationäre Angebote online sichtbar. Aber das Instrument ist teuer und die Conversion ist schwer zu messen, da die meisten Leute ohne Reservation in den Laden kommen. Matthias Fröhlicher, KOALA
Seit November 2018 sind Google Local Inventory Ads auch in der Schweiz verfügbar. Aber Schweizer Anbieter sind demgegenüber zögerlich. Zum einen scheuen sie den Aufwand der Datenanbindung für aktuelle Bestandsinformationen, zum anderen aber auch die bei diesem Dienst entstehende Preistransparenz. Vielleicht müssten Schweizer Anbieter bei so einer wichtigen Funktion selbst dafür sorgen, dass es einen für sie passenden Dienst gibt.
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