3 Konsumverhalten und Distribution im Umbruch

«Was wird aus dem Handel?» – Auch wenn schon gar nicht mehr ausgesprochen, schwebt diese Frage über allen Szenarien und Überlegungen für Unternehmen, deren Leistungen auf private Endkonsumenten ausgerichtet sind. Täglich können wir beobachten, dass die Konsumwelt im Umbruch ist. Aber es ist nicht leicht, sich ein Bild von der Zukunft zu machen. Hinzu kommen Prognosen, die die heutige Angebotswelt vor noch tiefgreifenderen Umbrüchen sehen. So etwa die Anfang 2019 vom Gottlieb Duttweiler Institut GDI und KPMG publizierte Zukunftsstudie mit dem Titel «Das Ende des Konsums: Wenn Daten den Handel überflüssig machen» [3]. Diese Studie versucht, 30 Jahre in die Zukunft zu blicken. Auf einige Aspekte daraus wird in Kapitel 8 zurückgekommen.

3.1 Perspektive 2019 bis 2025

In der diesjährigen Studienausgabe des E-Commerce Report Schweiz wird die Beschreibung der aktuellen Situation mit einem Ausblick auf das Jahr 2025 verbunden. Sechs Jahre in die Zukunft zu blicken fällt angesichts der Marktdynamik schwer. Allerdings müssen gewisse Weichen schon heute gestellt werden, um 2025 in einer erfolgversprechenden Marktposition zu sein. Rückblickend erscheint immer klar, warum gewisse Dinge gelingen oder nicht gelingen konnten. Wenn aber Entscheidungen getroffen werden, basieren sie auf einer impliziten oder expliziten Vorstellung davon, wohin die Reise gehen könnte, worauf man sich vorbereitet und worauf nicht.

Ex Libris konnte die Filialschliessungen nur deshalb so entschlossen umsetzen, weil die Mehrheit des Geschäfts bereits über den rentablen Onlinekanal lief. Daniel Röthlin, Ex Libris

Wenn das Handeln von der Vorstellung geprägt ist, dass die Verhältnisse so bleiben, wie sie sind, könnten in dem Fall, dass es anders kommt, die Handlungsoptionen fehlen. In der elfjährigen Studienreihe des E-Commerce Report Schweiz gibt es eine Reihe von Beispielen dafür. Die Autoren der erwähnten Zukunftsstudie warnen [12]:

«Sich die Zukunft des Handels als eine lineare Zunahme des Online-Handels vorzustellen, dem eine gewisse Anzahl konventionellen Läden zum Opfer fällt …, greift viel zu kurz»

.*Hinweis: Besonders pointierte Aussagen werden in diesem Bericht mit (i) hervorgehoben.

In den folgenden Kapiteln wird versucht, aus den vielfältigen Beurteilungen der Studienteilnehmer ein aktuelles Bild der Gegenwart und der Trends für die nahe Zukunft zu entwickeln. Prognostische Schärfe kann dabei nicht erreicht werden. Die Beschreibungen liefern aber eine Vorlage zur Überprüfung und Erweiterung der eigenen Vorstellungen, wohin die Reise gehen könnte.

Den Anfang macht eine Auseinandersetzung mit dem vorherrschenden Bild von linearen Distributionsketten, das sich so nicht mehr als zutreffend erweist. Deshalb wird ein neues Bild entworfen, das einer vernetzten Handelswelt. In ihr steht der Kunde im Zentrum und hat so viele Möglichkeiten wie nie zuvor. Das zeigt sich in der fragmentierten Customer Journey. Sie macht es Anbietern schwer, Kunden immer genau das Richtige anzubieten, und reduziert ihre Ertragsmöglichkeiten. Gleichzeitig werden ein Wertewandel und eine andere Haltung zum Konsum erkennbar.

3.2 Vorstellung von der vernetzten Angebotswelt

Die erste inhaltliche Frage der diesjährigen Interviews bat um einen Ausblick auf die vernetzte Angebotswelt im Jahr 2025. Der Begriff einer vernetzten Angebotswelt – bei Händlern wurde der Begriff Handelswelt verwendet – steht für die Vorstellung, dass die alte, lineare Struktur der Distribution durch multilaterale, in vielfältigen Konstellationen praktizierte Formen der Zusammenarbeit abgelöst wird. Die These basiert auf zwei Entwicklungen:

Die eine ist die Suche der Anbieter nach Wachstum durch mehr Reichweite für ihre Leistungen. War die Reichweite in der Vergangenheit durch den lokal erschliessbaren Aktionsradius beschränkt, ist sie durch die digitale Vernetzung massiv erhöht worden. Die andere Entwicklung ist eine Folge der ersten, nämlich der massiv gestiegene Wettbewerbsdruck durch mehr Einkaufsalternativen für die Konsumenten. Der erhöhte Wettbewerb bewirkt eine Steigerung des Leistungsniveaus in Form von mehr Leistungen für weniger Geld.

Der grösste Gewinner des Strukturwandels sind die Konsumenten. Sie haben durch die Transparenz des Internets an Mündigkeit und Alternativen gewonnen. Philippe Huwyler, coop@home

Da viele Anbieter das höhere Leistungsniveau aus eigener Kraft nicht erreichen können, nimmt die Spezialisierung zu. Die Anbieter fokussieren auf bestimmte Marktsegmente, auf deren Anforderungen sie ihre Leistungen präzise ausrichten, oder auf bestimmte Funktionen, in denen sie Spitzenleistungen anstreben und die sie in möglichst vielen Kontexten vermarkten. Das geht häufig mit neuen Geschäftsmodellen einher.

Ein Beispiel dafür ist Flaschenpost mit seiner Fokussierung auf das grösste Weinsortiment. Im Verbund mit rund 70 unabhängigen Weinhändlern wird ein Angebot von 20'000 Weinen möglich. Das sind rund zehnmal so viele wie beim grössten traditionellen Anbieter. Dessen Angebot ist auf selbst erbringbare Leistungen beschränkt und hinsichtlich Sortimentsgrösse dem im Verbund handelnden Anbieter um Längen unterlegen.

Es ist ein Kennzeichen der digitalen Transformation vieler Branchen, dass sich traditionelle Wertschöpfungsbündel auflösen und einzelne Funktionen von hochgradig spezialisierten Anbietern erbracht werden [13].

Über Partnerschaften kann man die Wertschöpfungstiefe sehr niedrig halten. Das hilft Start-ups, schnell etwas auf die Beine zu stellen. Nathan Lauber, Nespresso Suisse

Um bei den fokussierten Funktionen Spitzenleistungen zu kompetitiven Preisen erbringen zu können, muss die Leistung in sehr hohen Stückzahlen erbracht werden können. Das wird in der Regel über eine Ausdehnung der Reichweite angestrebt. Die Suche nach mehr Wachstum durch grössere Reichweite und die Steigerung des Leistungsniveaus durch Spezialisierung verstärken sich gegenseitig.

3.3 Mehr Vielfalt in der Distribution

Die These der vernetzten Angebotswelt betont etwas, was in einer vertrauten Form seit vielen Jahrzehnten bei Konsumgütern die Regel ist, nämlich die Arbeitsteilung in der Distribution – der Verteilung und dem Verkauf der Waren vom Hersteller an die Konsumenten. Allerdings haben sich mit dem Internetzeitalter eine Reihe von Merkmalen verändert.

An erster Stelle ist die Struktur der Distributionssysteme zu nennen: Bis zur Jahrtausendwende dominierte die lineare Verteilung der Waren vom Hersteller ausgehend über seine Markenorganisation, Grosshandel bis zum Einzelhandel in verschiedenen Formen, national und international. Abb. 7 zeigt eine generische Struktur für die Distribution physischer Konsumgüter. [14]

Viele Akteure in der Distributionskette sind heute multilateral vernetzt.

Diese Linearität wird immer noch praktiziert, als Prinzip ist sie allerdings nicht mehr gültig. In der Praxis gibt es heute viele Formen der Disintermediation – des Überspringens von Handelsstufen – und der Reintermediation, also des Aufkommens neuer Intermediäre wie z. B. Onlinemarktplätze. Hersteller verkaufen parallel auf direkten und indirekten Kanälen. Grosshändler engagieren sich auch im Endkundengeschäft und B2C-Einzelhändler verkaufen Ware an andere Wiederverkäufer. Unternehmen verfolgen parallel mehrere Geschäftsmodelle und nehmen mehrere Rollen gleichzeitig ein.

Die Linearität der Grafik entspricht nicht der Realität: In der Elektronikbranche verkauft jeder Anbieter an jeden, auf allen Handelsstufen. Dabei herrscht ein Preiskampf um den letzten Rappen. Studienteilnehmer

Vor fünf Jahren hat man die Wertschöpfungskette noch respektiert, aber das bröckelt jetzt. Dominic Blaesi, Flaschenpost Services

An der Stelle des einstmals beschaulichen katalogbasierten Distanzhandels hat sich ein leistungsstarkes E-Commerce- Business etabliert. In dessen Wachstum sind keine Ermüdungserscheinungen zu erkennen – zu Lasten des stationären Handels. Onlineshops von Händlern folgen noch dem Modell der linearen Distributionskette, B2COnlineshops von Herstellern stellen dagegen einen Bypass zur angestammten Distribution dar. Einen noch bedeutenderen Strukturbruch bewirken die zwischenzeitlich zu den grössten E-Commerce-Playern herangewachsenen Onlinemarktplätze. Ihre Besonderheit ist die lediglich vermittelnde Rolle, eine Schlüsselrolle in der multilateral vernetzten Angebotswelt. Sie bewirken Markttransaktionen, ohne selbst in irgendeiner Weise an der Ware oder Leistung engagiert zu sein [16].

Direkter auf Endkunden ausgerichtete Herstelleraktivitäten und ein weiteres Wachstum der Onlinemarktplätze – das sind aktuell und in den nächsten Jahren die dominierenden Trends in der Distribution.

Ebenfalls eine Schlüsselrolle in der Vernetzung eingenommen haben die digitalen Plattformen, die sich auf das Matching zwischen Anbietern und Konsumenten ausgerichtet haben, aber keine Transaktionen auf der eigenen Plattform auslösen. Diese werden hier Kundenzugangs- Dienstleister genannt. Als Suchmaschinen, Social Media, Blogs und dergleichen haben sie sich zwischen Anbieter und Konsumenten geschoben und machen dem Einzelhandel eine seiner wichtigsten Funktionen streitig, nämlich das Bindeglied des Distributionssystems zu den Konsumenten zu sein.

Die Schaffung eines Kundenzugangs ist ein eigenständiges Geschäftsfeld geworden.

Nachdem sich Kaufanregungen und Produktrecherchen mehr und mehr ins Internet verlagert haben, nehmen die Kundenzugangs-Dienstleister die Rolle ein, die der Standort im traditionellen Handel hat. Wobei es im Internet sehr viel weniger Locations gibt, an denen sich konsumbereite Zielgruppen antreffen lassen. Der Zugang zu Kunden hat sich zum erfolgskritischen Engpassfaktor für Anbieter entwickelt.

Einen immer grösseren Teil seines Geschäfts kann der Onlinehandel nur noch mit indirektem Kundenzugang über Google, Amazon und Co. machen. Das ist ganz gefährlich. Stephan Widmer, Beliani

Das schien lange Zeit nur Onlineanbieter zu betreffen. Allerdings sind stationäre Ladenbesuche zunehmend mit vorgängigen Internetaktivitäten verbunden. Es ist deshalb abzusehen, dass auch der stationäre Handel von einer Entwicklung betroffen sein wird, die z. B. für Hotels längst Alltag ist. Sie haben einen bedeutenden Teil der Kunden, die im letzten Jahrhundert üblicherweise direkt bei ihnen buchten, an Reiseplattformen im Internet verloren. Für den vermittelten Kundenzugang bezahlen sie nun eine Kommission von 12 % oder mehr. Hinzu kommt, dass je nach Branche und Plattform ein auf diese Weise erworbener Käufer gar kein Kunde wird, weil die Plattform die über das Notwendigste hinausgehende Interaktion mit dem Käufer verbietet.

Der Einzelhandel hat den exklusiven Zugang zu den Konsumenten und damit das wichtigste Merkmal seiner Rolle in der Distributionskette verloren.

Was die Vielfalt der je nach Konstellation an der Distributionskette beteiligten Organisationen angeht – in Abb. 7 sind sie in gestrichelten Kästen dargestellt – gibt es die unterschiedlichsten Ansichten. Etwa gleich viele Personen sind der Meinung, dass Grosshandelsunternehmen im weiteren Verlauf des Strukturwandels stark gefährdet seien oder aber auch in Zukunft gebraucht würden. Auch der Einzelhandel hat seine Verfechter und Skeptiker. Am klarsten kommt die Auffassung zum Ausdruck, dass die Schweiz überdistribuiert ist. Viele Studienteilnehmer gehen von einer Verkürzung der Distributionsketten und einer Konzentration auf Anbieterseite aus. Aber es ist unklar, wo und wie. Zudem lassen sich immer wieder und auf allen Distributionsstufen Innovationen finden und neue Nischen besetzen, was neue Anbieter hervorbringt – z. B. Farmy im Lebensmittel-E-Commerce. Die Schlussfolgerung für viele Befragte lautet deshalb, dass das in Abb. 7 dargestellte Schema der bisherigen Distributionslandschaft im Jahr 2025 nicht sehr viel anders aussehen werde.

Jede Distributionsstufe verbraucht Kosten und Zeit. Deshalb müssen die Distributionsketten kürzer werden. Philippe Huwyler, coop@home

Im B2C-Bereich wird sich die Distributionslandschaft nicht grundsätzlich ändern. Pascal Schneebeli, Orell Füssli Thalia

Die Struktur der Distribution wird mehr oder weniger dieselbe bleiben. Aber es wird mehr direkt zwischen Herstellern und Konsumenten gehen. Allen Krief, DeinDeal

Auf der Grosshandelsstufe erwarte ich langfristig eine sehr starke Konsolidierung auf einige wenige, sehr grosse Unternehmen, die das Inventar vorhalten und die Logistik machen. Solche könnten auch zu einem chinesischen Konzern gehören. Francesco Vass, ricardo.ch

In der Home & Living-Branche können die Hersteller die Leistungen, die der Grosshandel erbringt, nicht selbst abdecken. Das sind oft kleine Unternehmen, die froh um einen Partner vor Ort sind. Patrick Strumpf, Jamei

Die nach primären Rollen gegliederte Darstellung bewirkt allerdings, dass eine Entwicklung übersehen werden könnte: die zunehmende vertikale Integration, also die Übernahme von vor- oder nachgelagerten Funktionen der Distributionskette für ein Marktsegment. Bei lange Zeit erfolgreichen internationalen Unternehmen wie IKEA, H&M oder Zara ist bekannt, dass die vertikale Integration Teil ihrer DNA ist. Jahrzehntelang wurde das abgeschottete Modell konsequent verfolgt, zwischenzeitlich stösst es aber auch an Grenzen. Die digitalen Pendants dazu sind die jüngeren, geschlossenen Welten von Apples iPhone, Amazon Kindle, Netflix oder Spotity, die mit exklusiven Rechten, Inkompatibilität und Netzwerkeffekten noch viel mehr Reichweite und Macht entwickeln. Selbst im Veranstaltungsbusiness ist eine solche Entwicklung zu beobachten. Das zeigt sich bei Ticketcorner als Teil von CTS Eventim, die viel mit Beteiligungen und exklusiven Rechten arbeiten, auch in der Schweiz.

Dass eine Angebotswelt vernetzt ist, sagt nichts darüber aus, ob sie offen oder geschlossen konzipiert ist.

Im Veranstaltungs-Business nimmt der Trend zur Beherrschung ganzer Leistungsketten vom Künstler über den Veranstaltungsort bis zum Ticketing zu. Das reduziert die Wettbewerbsintensität. Christof Zogg, Starticket

Daneben sind vermehrt punktuelle Integrationen zu beobachten. Sie folgen weniger einem generellen Konzept, sondern dienen ganz bestimmten Zwecken. Abb. 8 zeigt eine Reihe solcher Konzepte in der Schweiz. Das radikalste Gegensatzpaar auf dem Bild sind Farmy und Aliexpress. Gemeinsam haben sie, dass sie die in ihren Industrien typischerweise langen, mehrstufigen Distributionsketten auf eine einzige Stufe verkürzen. Aliexpress verbindet chinesische Commodity-Hersteller weltumspannend mit Konsumenten, wobei ein Netzwerk von Dienstleistern aus dem Umfeld der Alibaba-Gruppe mithilft. Farmy dagegen verbindet regionale landwirtschaftliche Betriebe und Hersteller für Frischprodukte mit regionalen Konsumenten. Farmys Integrationseffekt basiert darauf, dass das Geschäftsmodell auf einem nachfragegesteurten Warenfluss beruht, vergleichsweise kleine Mengen für lediglich regionalen Bedarf bewegt und keine Strukturen wie Lager, Grosshandel oder Filialverteilung benötigt. Das spart Zeit und Geld, was frischeren und höherwertigeren Lebensmitteln zugutekommt. Die Skalierung des Geschäftsmodells erfolgt über eine regionale Multiplikation der weitgehend voneinander unabhängig operierenden Umschlagzentren. Diese arbeiten jeweils auch mit eigenen, regionalen Lieferantenstämmen.

Beliani und Victorinox haben gemeinsam, dass beide eigene Produkte herstellen (lassen) und selbst an Konsumenten verkaufen. Zur Erhöhung von Reichweite und Absatzmengen verkaufen sie zudem auch indirekt. Auch FREITAG und Nespresso sind vertikal integriert, verkaufen sowohl direkt als auch indirekt. Der indirekte Vertrieb hat eine gezielte Markterschliessungsfunktion. Bei Nespresso sind die schicken Maschinen an vielen Orten im Handel verfügbar – sie sind das Einstiegsprodukt in einen lang anhaltenden Verbrauch von Original-Kaffeekapseln, die es nur bei Nespresso direkt gibt. Bei FREITAG können stationäre Händler naturgemäss immer nur ein limitiertes Angebot an Taschen im Laden haben. Jede ist ein Unikat und was liegt da für den Markenfan näher, als in FREITAGs Onlineshop zu schauen, ob es dort nicht gerade ein noch cooleres Exemplar gibt.

Für FREITAG gilt: wo unsere Produkte stationär verkauft werden, da steigt auch der Onlinetraffic und -umsatz. Christopher Tscholl, FREITAG lab.

Die Kombination von direktem und indirektem Vertrieb widerspiegelt die Anliegen der authentischen Markenpräsentation in direktem Kundenkontakt und der Reichweite, die unabhängige Händler bieten können.

Eine vergleichsweise niederschwellige Form der Integration der Wertschöpfungskette sind eigene Produkte in Form von Eigenmarken. Für viele Händler sind sie eine wichtige Massnahme zur Ertragsoptimierung.

Wir wollen unsere Eigenmarken in Zukunft ausbauen, um die Marge zu verbessern. Studienteilnehmer

Wir pushen unsere Eigenmarken, die werden immer wichtiger. Studienteilnehmer

In der Grafik nicht abgebildet sind Integrationen einzelner, typischerweise von verschiedenen Rollen erbrachten Funktionen in einer Unternehmensgruppe. Das lässt sich in der Competec-Gruppe, in der PCP.COM-Gruppe und bei Digitec Galaxus beobachten. Bei den beiden letzteren geht es um die Integration von EU-Raum und Schweiz oder um die Umgehung der oft nachteiligen Exportstrukturen und -konditionen ausländischer Warenanbieter für die Schweiz. Sowohl die PCP.COM-Gruppe als auch Digitec Galaxus, die bisher beide primär auf den Schweizer Heimatmarkt ausgerichtet sind, unterhalten in Deutschland eigenständige Verkaufskanäle, PCP-COM auch in Österreich. Bestellungen aus diesen EU-Ländern werden auch logistisch dort abgewickelt. So können sie bei Grosshändlern oder Markenvertretungen Ware für Inlandsadressen bestellen – zu EU-Konditionen. Exporte solcher Waren in die Schweiz organisieren beide schnell und günstig mit eigener Infrastruktur selbst. Dabei geht es um mehr als eine Kleinigkeit: Ende Mai lancierte Galaxus sechs vorkonfigurierte Automodelle verschiedener Hersteller «mit Preisen, die dank schlankem Sortiment und Direktimport 10 bis 40 Prozent unter dem offiziellen Listenpreis liegen» [17]. Mit einer solchen Unternehmensaufstellung haben die Anbieter gleich lange Spiesse wie die europäischen Wettbewerber.

Die Competec-Gruppe verkörpert das Bild einer vernetzten Angebotswelt sowohl nach innen als auch nach aussen. Gleichzeitig ausgerichtet auf drei Zielgruppen – Marken, Wiederverkäufer und Endkonsumenten – wird deren unterschiedlichen Anliegen mit aufeinander abgestimmten Leistungen Rechnung getragen. Die üblichen Schnittstellen zwischen Marke, Gross- und Einzelhandel entfallen durch die unternehmensinterne Integration. Dabei nutzen Competecs B2C-Anbieter BRACK.CH, der Elektronik-Grosshändler Alltron und der Home-and- Living-Grosshändler Jamei dieselben Assets, insbesondere in der Logistik. Das ermöglicht zahlreiche Synergien.

Zu Competecs Kompetenzen gehört es, sich in verschiedene Formen von Kooperation einordnen zu können. Marc Isler, BRACK.CH

3.4 Die neue Hierarchie in der Distribution

Die in Abb. 7 gezeigte Darstellung der Distributionslandschaft ist – wie schon erwähnt – so vertraut und eingängig, dass etliche Studienteilnehmer glauben, im Jahr 2025 werde das nicht sehr viel anders aussehen. Aber die beschriebenen Veränderungen lassen sich darin nicht befriedigend abbilden. Eine adäquatere Darstellung müsste sich in folgenden Punkten unterscheiden:

  • Anstelle der Supply-Orientierung müsste sie eine stärkere Kundenorientierung aufweisen: Die Beschaffungs- und Produktionsmöglichkeiten sind zwischenzeitlich sehr vielfältig und flexibel geworden. Die Supply Chain gibt nicht mehr vor, was Kunden konsumieren können, sondern umgekehrt, sie muss ihre Produktion auf deren Bedürfnisse abstimmen.

  • Kundenzugangs-Dienstleister und Onlinemarktplätze sollten sich in ihrer Darstellung von den anderen Akteuren unterscheiden, da sie einerseits einen grossen Einfluss auf die Distribution haben, andererseits aber gar nicht direkt an ihr beteiligt sind.

  • Die Unterscheidung von filialisierten Handelsunternehmen und Distanzhandelsunternehmen löst sich auf. Sie ist in Bezug auf die Historie, Assets und Kompetenzen der einzelnen Unternehmen weiterhin relevant. Aber als systematische Unterscheidung im Einzelhandel, der ohnehin eine grosse Vielfalt von Betriebsformen hat, ist sie nicht mehr von Bedeutung.

Das Denken verlagert sich von der Wertschöpfungskette zum Kundenwert. Die Wertschöpfungskette organisiert sich im Hintergrund, sie ist nicht mehr linear. Dominic Blaesi, Flaschenpost Services Kunden werden in Zukunft keine bewusste Unterscheidung zwischen stationärem und online-Einkaufen machen. Marc Isler, BRACK.CH

Abb. 9 zeigt deshalb eine neues Konzept für die Darstellung der Distributionslandschaft für Konsumgüter. Ein wichtiger Unterschied ist, dass die Glieder der Distributionskette einschliesslich der Kunden nicht mehr quasi gleichwertig linear hintereinandergeschaltet sind, sondern in drei Gruppen unterteilt werden: Konsumenten im Zentrum, allzeit begleitet von bedarfsübergreifenden Kundendienstleistern und an dritter Stelle die eigentlichen Leistungserbringer der jeweiligen Distribution.

  • Im Zentrum stehen die Konsumenten. Im Sprachgebrauch der Anbieter ist das zwar ein alter Hut, in den tatsächlichen Strukturen und Steuerungsmechanismen der Industrie aber keineswegs.

  • Die Konsumenten sind heute allgegenwärtig begleitet von bedarfsübergreifenden Kundendienstleistern. Als digitale Plattformen richten diese ihre Services primär auf die individuellen Bedürfnisse von Personen aus, sekundär auf die Unternehmen, die diese Personen als Kunden erreichen wollen. Als Touchpoint in vielen Customer Journeys werden sie ein Teil der Distribution, indem sie Informationen oder gleich passende Leistungserbringer vermitteln und mit dieser rein digital erbrachten Leistung Wertschöpfung auf sich ziehen. Im Kontext des Vertriebs von Gütern und Leistungen sind zwei bedarfsübergreifenden Dienstleistertypen relevant: Zum einen Kundenzugangs-Dienstleister wie Suchmaschinen, die eine hohe Aufmerksamkeit bei Konsumenten geniessen. Zum anderen Onlinemarktplätze, die von Kaufinteressierten angesteuert werden, wenn bei ihnen für einen konkreten Bedarf kein einzelner Anbieter gedanklich fest verknüpft ist.

  • Erst in der dritten Gruppe aussen herum finden sich die eigentlichen Leistungserbringer, durch die die Erfüllung des jeweils spezifischen Bedarfs geschieht. Das sind in der traditionellen Distributionskette die Hersteller, der Gross- und Einzelhandel. Jedes Produkt, das einen Käufer erreicht, hat zuvor ein Distributionssystem irgendeiner Art durchlaufen. Die Arbeitsteilung geschieht dabei in verschiedenen Konstellationen, die Aufteilung genau nach den drei klassischen Rollen ist aber nur eine Möglichkeit. Gleichzeitig ist ein einzelnes Unternehmen nicht mehr auf eine einzige Rolle beschränkt, sondern kann parallel in unterschiedlichen Rollen ein Teil verschiedener Distributionen sein. Das ist aber eher die Ausnahme. Die meisten Distributionssysteme, die untereinander in der Regel im Wettbewerb miteinander stehen, funktionieren wie vertikale, organisatorische Silos, zwischen denen es kaum Querverbindungen gibt.

Die bedarfsübergreifenden Kundendienstleister sind die Gewinner im laufenden Strukturwandel.

Die eigentlichen Leistungserbringer profitieren einerseits von einer grösseren Reichweite und einem grösseren Markt, der ihnen durch die Vermittlung der bedarfsübergreifenden Kundendienstleister zugänglich wird. Andererseits werden sie, wie in Kapitel 3.2 erläutert, einem enormen Wettbewerbsdruck ausgesetzt.

Nicht nur der Einzelhandel, auch die Hersteller und die ganze Distributionskette sind unter Druck. Matthias Fröhlicher, KOALA

Die eigentlichen Leistungserbringer sind auch diejenigen, auf denen der höchste Anpassungsdruck infolge des Strukturwandels lastet. Nachdem in der 2018er Ausgabe dieser Studienreihe Onlinemarktplätze im Rahmen des Jahresschwerpunkts Umgang mit mächtigen digitalen Plattformen ausführlich behandelt wurden, werden in diesem Jahr die Aspekte der Leistungserbringer vertieft. Im Fokus stehen Markenhersteller, deren verändertes Verhalten ebenfalls als ein Treiber der Veränderungen gilt, und der traditionelle, stationäre Einzelhandel, der aktuell ein Hauptbetroffener des Strukturwandels ist. Anschliessend folgt die Situation im Onlinehandel. Zunächst wird aber noch ein Blick auf Konsequenzen des sich ändernden Verhaltens der Konsumenten geworfen.

3.5 Die fragmentierte Customer Journey und die Notwendigkeit, Daten zu erheben

Konsumenten interessieren sich nicht für die Struktur von Distributionssystemen. Ihr Kaufverhalten folgt lange eingeübten Gewohnheiten und – anders als im B2B – spontanen Impulsen, für die wohl jeder auf irgendeine Weise empfänglich ist. Begegnungen mit der Anbieterseite finden an Touchpoints statt, mehrere Touchpoints bilden eine Customer Journey. Und die findet heute häufig auf verschiedenen Medien mit verschiedenen Partnern statt.

Die fragmentierte Customer Journey bedeutet für den traditionellen Handel einen immensen Kontrollverlust.

Farmy hat im Durchschnitt circa sechs Touchpoints, bis jemand eine erste Bestellung macht. Tobias Schubert, Farmy

Die fragmentierte Customer Journey macht es den stationären Anbietern schwer. Deshalb versucht OFT an allen möglichen Orten niederschwellige Anknüpfungspunkte zu schaffen. Pascal Schneebeli, Orell Füssli Thalia

Als Anbieter muss ich da sein, wo die Kunden sind, das kann auch über einen Influencer sein. Marc Isler, BRACK.CH

Anbieter stehen vor zwei Herausforderungen: erstens, an ihren Touchpoints überhaupt ausreichend Kontakte zu ihrer Zielgruppe zu haben, und zweitens, das aktuelle Anliegen eines Kunden so gut zu erfassen und zu verstehen, dass sie den Anforderungen gerecht werden und eine Conversion erzielen können – online oder stationär.

Als Händler muss man heute gut überlegen, in was für einem Einkaufsmodus man den Kunden wo antrifft, und genau dafür muss man dann eine gute Lösung haben. Philippe Huwyler, coop@home

Es geht nicht um online oder offline, sondern darum, in der jeweiligen Bedarfssituation je nach der Art des Produkts, dem Servicebedarf und dem Sicherheitsbedürfnis das beste Angebot zu haben. Jordan Ballazini, MediaMarkt Schweiz

Für eine gute Customer Experience muss man sich auf spezifische Use Cases ausrichten. Dominic Blaesi, Flaschenpost Services

Als ideal gilt es, als Anbieter eine Customer Journey selbst anstossen zu können oder ganz an deren Anfang zu sein, denn dann wird der Benchmark für allfällige Alternativen gesetzt. Marken kümmern sich um Lead Generation im Internet und versuchen dabei oft, den Lead an den Touchpoint eines Vertriebspartners weiterzugeben.

Wenn es einem Ticketinganbieter gelänge, in grossem Umfang in der Anregungsphase in Kundenkontakt zu kommen und nicht erst in der Vereinbarungsphase, könnte das die Branche verändern. Christof Zogg, Starticket

Die Content-Kampagnen, mit denen wir die Foto-Enthusiasten ansprechen, kombinieren wir mit physischen Touch & Try Events unserer Vertriebspartner. Markus Naegeli, Canon Schweiz

Die Kunst ist, digital präsent zu sein, wenn der Kunde die Reise beginnt. Samy Liechti, BLACKSOCKS

Viele Studienteilnehmer setzen alles daran, sich in ihrem Marktsegment so gut zu positionieren, dass die Kunden sie als präferierten Anbieter aus eigener Initiative aufsuchen. Marc Isler von BRACK.CH glaubt allerdings, die Bedeutung solcher Positionierungen nehme ab. Anbieter sollten deshalb versuchen, an möglichst vielen Punkten präsent zu sein, an denen sich Kunden informieren. Und wenn Kunden ihre Inspiration bei einem Influencer finden, müsse man eben dort sein. BRACK.CH ist dabei flexibel, eine in fremdem Kontext ausgelöste Transaktion im eigenen Namen oder lediglich als erfüllender Dienstleister im Hintergrund auszuführen – ein typisches Beispiel dafür, dass sich die eindeutigen Rollen in der Distribution auflösen. Diese Flexibilität im Rollenverständnis zeigt auch geschenkidee.ch. In einer B2B-Kooperation platzieren sie Warenträger mit ausgewählten Geschenken in Convenience Shops an 70 Schweizer Tankstellen. Die Warenträger tragen die Marke und Produkte von geschenkidee.ch, aber die Käufer sind Kunden der jeweiligen Shops.

Wenn sich selbst Instagram zu einer Plattform entwickelt, auf der man Produkte kaufen kann, dann wird entscheidend sein, dass der Kauf meiner Produkte nicht nur in meinem eigenen Onlineshop möglich ist. Marc Isler, BRACK.CH

Sowohl physische als auch virtuelle Orte sind oft mit bestimmten Bedürfnissen verbunden. Daraus ergeben sich punktuelle Verkaufschancen. Besonderes Potenzial ergibt sich, wenn die einzelnen Kaufvorgänge zu wiederholten Transaktionen in einer festen Anbieter-Kunden- Beziehung verbunden werden können:

Die zunehmende Mobilität und Digitalisierung bedürfen neuer Einkaufsmodelle. … Mit dem neuen Konzept avec box wollen wir dem Kunden absolute Flexibilität bieten: Er kann einkaufen wann er will, 24/7, und das in seinem Tempo ohne Anstehen. Felicitas Suter, Valora Schweiz

Konzepte wie avec box haben neben dem Kundenbindungspotenzial der App noch ein weiteres Potenzial: Den Aufbau eines wertvollen Datenschatzes.

Kassenlose Geschäfte verwandeln Läden in Touchpoints von digital erfassten Customer Journeys.

Wenn man Kunden in einer fragmentierten Customer Journey sinnvollen Content anbieten möchte, ist es notwendig zu erkennen, was für jeden einzelnen überhaupt sinnvoll sein könnte. Dazu müssen vorab typische Verhaltensmuster erfasst und mit Erkennungsmerkmalen versehen werden. Das adäquate Mittel zu deren Ermittlung sind Datenanalysen, die auf Daten zu echtem Kundenverhalten basieren. Diese Daten können über die App gewonnen werden, da sie auch stationäre Kunden identifiziert und ihr Verhalten erfasst.

3.6 Margenzerfall und die Suche nach ertragbringenden Leistungsmerkmalen

Die heute so zahlreichen Einkaufsmöglichkeiten haben stationär an vielen Orten zu einem Rückgang der Kundenfrequenz und online zu einem massiven Wettbewerb um den Zugang zu Kunden geführt. Das drückt sich auch in einem anhaltenden Preiswettbewerb aus. Seit Jahren berichten Studienteilnehmer von einer Erosion der Marge im Kerngeschäft – also z. B. bei Produkten ohne weitergehende Dienstleistungen. Am stärksten trifft der Preiskampf für Markenprodukte mit breiter Distribution zu. Diese Produkte sind durch ihre eindeutige Identifizierbarkeit im Internet leicht zu finden, Produktsuchmaschinen listen die lieferfähigen Anbieter mit aktuellen Preisen auf. Die breite Distribution und andere Merkmale der Vertriebspolitik der Marke bewirken einen funktionierenden Wettbewerb auf der Handelsstufe. Der wird häufig auch auf der Preisebene ausgetragen, was den Marken in der Regel ein Dorn im Auge ist. Das Gegenteil gilt für Markenprodukte mit restriktiver, selektiver Distribution. Dafür, dass sie auf eine breitere Distribution verzichten, gelingt es ihnen, den Wettbewerb des Handels auf der Preisebene tief zu halten. Dazwischen stehen Commodity-Produkte und Artikel von Handelsmarken. Sie können nicht ganz so leicht miteinander verglichen werden, allerdings sind für die Kunden meist auch nur einige wenige Kriterien relevant.

Bei Markenprodukten sind alle Anbieter preislich unter Druck. Dominic Blaesi, Flaschenpost Services

Der Preisdruck wird stark zunehmen, die Margen im Handel lösen sich auf – ausser bei starken Brands. Allen Krief, DeinDeal

Heute werden Sportartikel überall angeboten, selbst beim Lebensmitteldiscounter. Patrick Bundeli, INTERSPORT

Schweiz 2025 wird sich ein Lebensmittelanbieter mit Gratis-Lieferung nicht mehr hervorheben können. Tobias Schubert, Farmy

Ob im Kerngeschäft überhaupt noch etwas verdient werden kann, ist auch in vielen Dienstleistungsbranchen ein Thema. Markus Basler von der SBB berichtet, dass ab Januar 2020 im öffentlichen Verkehr der Schweiz die Marktöffnung stattfinden Könnte. Dann könnten auch nichtkonzessionierte Anbieter Tickets verkaufen. Gleichzeitig steht zur Diskussion, dass die Vertriebsprovision für die reinen ÖV-Leistungen im Fernverkehr komplett wegfällt.

Ohne Vertriebsmarge lohnt sich ein eigener Vertrieb für etliche der 240 Verkehrsbetriebe nicht mehr. Da würde es wohl zu einer Konsolidierung kommen. Markus Basler, SBB

Es ist schon vorstellbar, dass man in Zukunft am Ticketing nichts mehr verdient, sondern nur noch an Mehrwertdiensten. Eventfrog erzielt ja heute schon keine Einkünfte im Ticketing. Christof Zogg, Starticket

Branchenübergreifend wird seit Jahren in vielen Interviews das Problem geschildert, dass Anbieter im aktuellen Geschäftsmodell aus der Marge des Kerngeschäfts allein nur schwer überleben können. Deshalb werden die Preistoleranz der Kunden und die Kriterien oder Leistungsmerkmale, die eine erhöhte Zahlungsbereitschaft bewirken, thematisiert. Ausgangspunkt sind Beobachtungen, dass Konsumenten in Convenience Stores in grossem Umfang Produkte kaufen, die sie wenige hundert Meter entfernt deutlich günstiger kaufen könnten. Gleiches gilt für das Kundenverhalten in Sportgeschäften, je nachdem, ob dasselbe Paar Ski während eines Aufenthaltes am Wintersportort oder vorgängig gekauft wird. Mit Blick auf den Preiswettbewerb zwischen stationärem Handel und Onlinehandel wurde die Frage gestellt, ob Konsumenten davon ausgehen müssen, dass sie im stationären Handel praktisch immer höhere Preise antreffen als bei einem grossen Onlineanbieter, und dies je nach Situation auch akzeptieren (Abb. 10).

Die Antworten fallen recht gegensätzlich aus. Die Personen, die nicht von höheren Preisen im stationären Handel ausgehen, argumentieren mit der Preispolitik der Schweizer Grossverteiler und der überwiegenden Mehrheit der Multichannel-Anbieter, die in ihren Kanälen für gleiche Artikel gleiche Preise verlangen. Bei selektiv vertriebenen Markenprodukten gebe es höchstens geringfügige Preisunterschiede. Der stationäre Handel habe zudem gelernt, dass er seine Preise an das Preisniveau im Internet anpassen muss. Ausserdem mache der stationäre Handel häufig Preisaktionen, die online nicht verfügbar seien, und bei Internetpreisen müsse man schliesslich immer noch die Lieferkonditionen berücksichtigen.

Bei Markenartikeln ist der Preis online nicht immer günstiger. Stationäre Geschäfte machen ja auch immer wieder Aktionen. Reto Senti, PKZ Burger-Kehl

Gleicht ein stationärer Händler seine Preise nicht an das Online- Preisniveau an, verliert er Kunden. Matthias Fröhlicher, KOALA

Die Personen, die von höheren Preisen im stationären Handel ausgehen, machen geltend, dass es in der Realität wohl fast immer einen Onlineanbieter gibt, der den Marktpreis gerade unterbietet. Die höheren Preise werden akzeptiert, weil Kunden je nach Situation anderen Leistungsmerkmalen eine höhere Bedeutung beimessen: Beispiele sind ein frisch zubereitetes Sandwich samt Softdrink, die man auf dem Arbeitsweg ohne Umweg noch schnell mitnehmen kann, das Vertrauen in eine Handelsmarke, dass das Produkt schon in Ordnung sein wird, ein anregendes Sortiment im Buchladen, die schnelle Lieferbarkeit des exotischen Geschenks oder eine gute Beratung im Modegeschäft.

Konsumenten akzeptieren höhere Preise, wenn sie bequem sind und es ihnen nicht weh tut. Kilian Kämpfen, Scout24

Schweiz Im Spielwarenhandel sind die Kunden, die in Geschäfte gehen, nicht dieselben, die online das Lego-Produkt zum günstigsten Preis suchen. Marcel Dobler, Franz Carl Weber

Entscheidend für die Preissensitivität eines Kunden sind die Anforderungen in einer bestimmten Situation und die gerade verfügbaren Beschaffungsalternativen.

Einige Studienteilnehmer meinen, die Kunden wüssten auch, dass Unternehmen, die solche Leistungen anbieten, nicht den niedrigsten Preis haben könnten. Beliebig hoch dürfe die Abweichung aber nicht sein.

An Toplagen ist es unumgänglich, höhere Preise zu verlangen. Das wissen die Kunden auch – dafür gibt es diverse Dienstleistungen. Studienteilnehmer

Wer Ladengeschäfte betreibt, muss sich überlegen, welches die Mehrwerte dieser Geschäfte sind. Und die müssen auch finanziell abgeschöpft werden, anders geht es nicht. Studienteilnehmer

Die Identifikation und Realisierung von Leistungsmerkmalen, die eine über den Marktpreis der Kernleistung hinausgehende Zahlungsbereitschaft auslösen, hat dementsprechend eine sehr hohe Priorität. In den aufgeführten Argumenten wurden schon einige Beispiele für solche Leistungsmerkmale genannt. Weitere mögliche Mehrwerte werden in Kapitel 6.2 aufgelistet, wo es um Faktoren geht, mit denen sich individuelle Onlineshops von Marktplätzen unterscheiden können.

Auf der Veranstalterseite geht die Reise in Richtung Mehrwertdienste im Bereich Liquidität, Reichweite und Analytics. Das Ticketing allein wirft nicht mehr genug Ertrag ab. Christof Zogg, Starticket

Auch Onlineanbieter müssen sich die Frage ihrer Mehrwerte stellen. Pierre Wenger, Interdiscount

Da es im öffentlichen Verkehr in Zukunft keine Vertriebsprovision für Tickets mehr geben soll, prüfen wir Erweiterungsmöglichkeiten in Form von abrechnungsfähigen Services in unserer App. Markus Basler, SBB

Das Problem der bisher genannten Mehrwertansätze ist, dass sie situationsspezifisch sind. Das heisst, alle diese Merkmale, die sich die Anbieter etwas kosten lassen, entfalten ihre Wirkung nur, wenn der Kunde sie im gegebenen Moment auch wünscht (in Kapitel 5.1 wird das weiter ausgeführt). Aber Kunden suchen mal etwas Besonderes, mal das Gleiche wie beim letzten Einkauf, mal muss es schnell gehen, mal haben sie Zeit. Die Gefahr für einen Anbieter ist, zu viele Ressourcen in zu viele Services zu stecken, die nicht genügend Nachfrage erzielen, um die damit verbundenen Kosten zu decken. Und das Gegenteil, gar keine besonderen Leistungsmerkmale herauszubilden, ist auch nicht erfolgversprechend.

3.7 Vom Verkauf zum kontinuierlichen Service

Ein Lösungsansatz für die Verknüpfung der zu verkaufenden Produkte mit ergänzenden Dienstleistungen, die den Ertrag substanziell verbessern können, sind Konzepte mit einer Verschiebung von einmaligen Produktkäufen hin zu beständigen Beziehungen mit kontinuierlich erbrachten Leistungen. Dafür gibt es verschiedene Konzepte. Bei produktbezogenen Abonnementen mit Servicekomponente, etwa für Möbel oder Autos, erhöht sich der Produktverkaufspreis um die Erlöse aus den bereits fix für die ganze Vertragslaufzeit vereinbarten Serviceleistungen. Die Summe aller anfallenden Kosten wird auf monatliche Raten aufgeteilt. Das hat den Nebeneffekt, dass die Angebote für die Kunden schwer vergleichbar sind. Weitere Abonnemente werden in Kapitel 6.7 behandelt.

Das Abomodell beinhaltet den Service, dass das Möbel am Ende der Laufzeit von uns abgeholt wird. Stephan Widmer, Beliani

Beim Konzept des Sharings – auch in Kapitel 3.8 thematisiert – wird eine beständige Nachfrage nach Serviceleistungen dadurch sichergestellt, dass ein Produkt ständig wechselnden Personen zur Nutzung bereitgestellt wird. Eine weitere Möglichkeit sind Rahmenverträge, in denen die Beständigkeit der Kundenbeziehung durch Prozessoder Konditionenvorteile bewirkt wird. Sie können auf mehr oder weniger flexibel wiederholte Lieferungen abzielen, wie Flaschenposts Wein-Abos oder Le Shops Liefer- Abo. Oder sie ermöglichen vereinfachte Leistungsbezüge wie SBBs Generalabonnement oder Valoras avec app und Spettacolo-App mit automatisierter Bezahlung.

Wir wollen unser transaktionales Geschäftsmodell um ein relationales erweitern – unter anderem mit einem flexiblen, intelligenten Abo. Dominic Blaesi, Flaschenpost Services

Der Mehrwert bei Caffè Spettacolo ist, die online bestellte Ware einfach abholen zu können, ohne Anstehen, ohne Zubereitungszeit und ohne Checkout – z. B. weil die kurze Umsteigezeit sonst für den Einkauf nicht reicht. Felicitas Suter, Valora Schweiz

3.8 Wertewandel und neue Geschäftsmodelle

Ein weiterer Treiber verändert unsere Konsumwelt und die Geschäftsmodelle im Vertrieb: der Wertewandel. Nach einem jahrzehntelangen Nischendasein von Bioläden gehören besonders frische, regionale, nachhaltige, biologisch erzeugte, fair gehandelte, vegetarische und vegane Lebensmittel heute zum Stammsortiment von Discountern und Supermärkten. Dieser Trend überwindet die angebliche Geiz-ist-geil-Orientierung der Konsumenten und hat die Margen- und Preissituation im Lebensmittelhandel in den letzten Jahren entspannt. Die Eskalation von Meldungen über unwürdige Arbeitsbedingungen in Billiglohnländern, widerliche Praktiken in der Tierhaltung, Umweltverschmutzung, Klimawandel und natürlich der Peak Stuff, der sich nicht nur im überschrittenen Konsummaximum in Statistiken der westlichen Welt zeigt, sondern auch in überfüllten Schränken und Wohnungen, all das spiegelt sich erstmals in dieser Studienreihe in etlichen Aussagen der Interviewten, obwohl nicht explizit danach gefragt worden war:

Der Conscious-Buying-Trend wird noch viel mächtiger als Bio – der gesamte ökologische Footprint wird die Kaufentscheidungen beeinflussen. Tobias Schubert, Farmy

Schnellverpflegung wird weiter zunehmen, diese muss aber immer frischer und gesünder sein. Felicitas Suter, Valora Schweiz

Spontanes Einkaufen bei Mode nimmt ab, die Leute überlegen wieder mehr. Samy Liechti, BLACKSOCKS

Der generelle Rückgang des Detailhandels wird weitergehen. Das hängt auch mit einem gewissen Konsum-Überdruss und dem Wunsch nach mehr Nachhaltigkeit zusammen. Marc Huber, Jelmoli

Auch als Statussymbol hat Mode eher verloren. Studienteilnehmer

Es wäre schön, wenn der logistische Irrsinn der langen Transportwege reduziert werden könnte. Studienteilnehmer

Es findet ein Wertewandel statt und ich glaube, dass Handwerk, kleine Läden und eine Abkehr von der Wegwerfkultur an Bedeutung gewinnen und sich bis 2025 dafür geeignete Geschäftsmodelle abzeichnen werden. Christopher Tscholl, FREITAG lab.

Die Werteverschiebung geht vom unpersönlichen Massenprodukt zu persönlichen Erfahrungen und Dingen.

Der Stellenwert von Produkten habe abgenommen, die Menschen verlagerten ihre Ausgaben zu persönlichen Erlebnissen, erklären Studienteilnehmer. Mehr Menschen wollten auch für sich selbst nachhaltiger wirtschaften und bewusster leben. Die Motive sind nicht neu und einige Unternehmen auch im Studienpanel sind schon seit Jahrzehnten in ihrer Markenidentität mit ihnen verknüpft. Ein Beispiel ist FREITAG mit ihren Taschen aus recycelten Lastwagenplanen. Aber es gibt auch eine Reihe jüngerer Konzepte, die an diese Bedürfnisse anknüpfen. An erster Stelle soll hier Farmy genannt werden, weil es ein Schweizer Startup ist. Im Jahr 2014 als Der Online-Hofladen für regionale und biologische Produkte gegründet, hat Farmy sein Marktsegment zwischenzeitlich auf das weitere Verständnis Bewusstes Einkaufen ausgedehnt. Im Zentrum stehen aber weiterhin regional und verantwortungsvoll hergestellte Lebensmittel. Das Geschäftsmodell geht mit einer in der Lebensmitteldistribution einzigartigen Logistik einher, weil Farmy überhaupt keine Lebensmittel lagert, sondern täglich direkt von Erzeugern in der Region bezieht und gleich wieder ausliefert. Das Geschäftsmodell ist ein regionales, was bedeutet, dass die Skalierung über eine Multiplikation der Cross-Docking- Umschlagszentren geschieht, an die jeweils regionale Lieferanten angebunden werden. Ein weiteres Konzept ist Sharing – vom Besitzen zum Nutzen. Im Bereich von Ferienwohnungen und Übernachtungsmöglichkeiten hat es sich bereits etabliert. Aktuell wird es in der Automobilbranche auch von Herstellern aufgegriffen, die neben den bestehenden Carsharing-Modellen weitere Konzepte entwickeln.

Wenn sich Verkehrskonzepte stärker in Richtung Sharing, Subscription oder multimodale Konzepte verändern, muss sich die ganze Branche neu erfinden. Kilian Kämpfen, Scout24 Schweiz

Im Bereich von Re-Commerce soll hier als drittes die neue Ambition von ricardo.ch vorgestellt werden: Make Personal Commerce Main Street. Der Austausch gebrauchter Waren soll aus dem Flohmarkt-Image herausgeholt und aufgewertet werden, was in den Darstellungen auf der Website schon gut sichtbar wird. Francesco Vass erläutert die neue Ausrichtung von ricardo.ch:

Es gibt eine Entwicklung in Richtung von mehr Bewusstsein für die Umwelt, weniger Konsum und mehrfacher Nutzung von Dingen. Dazu gehört der Austausch von Dingen auf einer persönlicheren Ebene – wir nennen das Personal Commerce. Es entwickelt sich eine Parallelwelt zur konventionellen Konsumgüterdistribution. Durch die Dienstleistungen von ricardo.ch kann ein solcher C2CAustausch professionalisiert und vertrauenswürdiger werden. Francesco Vass, ricardo.ch

In dieser Erläuterung fällt der Begriff einer Parallelwelt zur konventionellen Konsumgüterdistribution. Es wird weiterhin konsumiert, aber anders. Ein Bedürfnis nach Parallelwelten, die anders ausgerichtet sind als unsere ökonomisch durchrationalisierte Welt, gibt es auch in anderen Bereichen. Ein Beispiel dafür sind Crowd Services, wo Personen in einem semiprofessionellen Status Arbeiten ausführen. Wie weit sich solche Welten verbinden lassen, wird gerade im Migros-Projekt AMIGOS ausgelotet (Kapitel 9).

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